Frau, träge    Sie hat eine Fünfzimmerwohnung, die mit dem ihr eigenen Geschmack recht elegant eingerichtet ist. Wenn jemand sich mit der Absicht trüge, ihre Umgebung zu schildern, so müßte als vorwiegende Stimmung in dem Gemälde die Trägheit zur Schau gestellt werden. Weiche Ruhebetten und weiche Polster für den trägen Körper, Teppiche für die trägen Füße, verblichene, matte oder verblaßte Farben für die trägen Augen; für die träge Seele aber eine Unmenge billiger Fächer an den Wänden und kleine Bilder, deren originelle Ausführung über ihren Inhalt dominiert, eine Unmenge kleiner Tische und Etageren, auf denen völlig überflüssige und wertlose Sächclchen herumstehen, und an Stelle der Vorhänge formlose Fetzen,.. Dies alles, gepaart mit der Furcht vor hellen Farben, vor Symmetrie und vor freiem Raum, zeugt, ganz abgesehen von der seelischen Trägheit, auch noch von der Verdorbenheit des angeborenen Geschmacks. Tagelang kann Katja auf dem Sofa liegen und lesen, vornehmlich Romane und Erzählungen. Aus dem Hause begibt sie sich nur einmal am Tage, kurz nach der Mittagsstunde, um mich zu besuchen.

Ich arbeite, Katja sitzt unweit von mir auf einem Diwan, schweigt und hüllt sich in ihren Schal, als friere sie. Ihre Anwesenheit hindert mich nicht, mich zu konzentrieren, vielleicht aus dem Grunde, weil sie mir sympathisch ist, vielleicht jedoch nur, weil ich mich an ihre häufigen Besuche schon gewöhnt habe, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ab und zu stelle ich ihr mehr mechanisch eine Frage, auf die sie kurz Antwort gibt; dann wieder drehe ich mich, um etwas auszuruhen, zu ihr um und schaue ihr zu, wie sie nachdenklich eine medizinische Zeitschrift oder eine Tageszeitung durchsieht. Und dann bemerke ich jedesmal, daß ihr Gesicht nicht mehr den früheren Ausdruck der Zutraulichkeit zeigt. Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt kalt, gleichgültig und zerstreut wie der von Reisenden, die lange auf einen Zug warten müssen. Auch jetzt ist sie, wie früher, hübsch und einfach gekleidet, wenn auch ein wenig nachlässig; man sieht, daß ihre Kleidung und ihre Frisur von den Ruhebetten und Schaukelstühlen mitgenommen werden, auf denen sie jetzt tagelang herumliegen kann.   - Anton Tschechow, Eine langweilige Geschichte. Nach (tsch)

 

Frau Trägheit

 

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