rau, praktische  Sie schlug die Serviette auseinander. Was zum Vorschein kam, sah aus wie ein Häufchen dunkler Steine. Einen Augenblick dachte er, es sei vielleicht ein Teil ihrer Gallensteinsammlung, die sie zusammen mit ihren Zähnen und ihrem Trauring in der Zigarrenkiste aufbewahrte.

»Rosinen«, eröffnete sie ihm triumphierend. »Da staunen Sie! Rosinen. Hab ich heute früh aus meinem Müsli gerettet. Man weiß nie, wann der Champagner schal wird. Manchen Dollar hab ich draufgezahlt, bis ich das Geheimnis der Rosinen entdeckt hab.«

»Ich wußte gar nicht, daß Rosinen ein Geheimnis haben.«

»Doch, das hab ich von einem der Mädchen. Wenn eine Zweiliterflasche Champagner schal wird, tut man ein paar Rosinen rein, und wie durch Zauberei fängt er wieder an zu moussieren.«

»Wirklich?«

»Meist jedenfalls. Manchmal ist eine schlechte Rosine dabei, aber die hier sehen recht gut aus, finden Sie nicht?«

»Was das kleine Mädchen betrifft, das verschwunden ist -«

»Viele kleine Mädchen verschwinden«, sagte Miss Firenze streng. »Und es sind noch lange nicht genug. Ebenso ist es mit Hunden, Pferden, Katzen, Kühen. Wird verdammt eng auf der Welt. Der Champagner reicht nicht mehr für alle.« Sie wickelte die Rosinen wieder ein und ließ sie in ihrer Nachttischschublade verschwinden. Weil man ja nie wissen konnte, wann diese flachbrüstige Asiatin die Zauberkraft der Rosinen entdeckte, und dann wäre kein Müsli mehr sicher vor ihr. »Wenn ich wieder heiraten würde«, sagte Miss Firenze, »brauchte ich mir all diese Respektlosigkeit nicht gefallen zu lassen. Mein Mann würde meine Geschäfte führen und dieser dämliche Esel von der Bank in die Röhre gucken. Als ich ihn neulich um ein paar tausend Dollar für eine Europareise gebeten habe, um meinen Stammbaum zu erforschen, hat er mir das glatt abgeschlagen. Mein Name hört sich italienisch an, aber ich glaube, ich stamme ursprünglich aus der Türkei oder Rumänien, so aus dieser Ecke. Genau werde ich das nie erfahren, wenn ich nicht heirate.«

»Was versprechen Sie sich denn davon?«

»Hab ich doch schon gesagt: Mein Mann kümmert sich um meine Angelegenheiten. Im übrigen brauch ich weder die Bank noch den Anwalt zu fragen, ob ich heiraten darf. Ich bin über einundzwanzig, falls Ihnen das entgangen sein sollte.« Sie kicherte hinter vorgehaltener hohler Hand wie ein schüchterner Backfisch. »Finden Sie nicht, daß so eine Heirat eine gute Idee wäre?«

»Das käme auf den Mann an.«

»Eine durchaus schickliche Verbindung. Ein Gentleman und mindestens so alt wie ich. Glauben Sie bloß nicht, ich hätte mich in einen dieser jungen Schnösel verguckt, die sich hier rumdrücken und auf ein Vermögen aus sind. Ich sage ja, ich bin eine praktische Frau.«  - Margaret Millar, Banshee, die Todesfee. Zürich 1990 (zuerst 1981)

 

Frau

 

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