Frau, müde  Die Wölfe hatten sie bereits gefressen. Die Wölfe, beziehungsweise das Leben, man brauchte sie ja nur anzusehen. Sie war eine alte Frau, und das mit dreißig. Die in der Mitte gescheitelten Haare, bereits mit ein paar weißen Fäden darin, der deprimierende Blick einer resignierten Frau, und ihre ewige Müdigkeit. War es vielleicht seine Schuld, daß er sie vor ein paar Jahren geliebt hatte und daß er sie jetzt nicht mehr liebte? Aber vielleicht war es gar nicht Liebe gewesen, sondern Solidarität, sie hatten aus Solidarität geheiratet, aber sicher war es nicht seine Schuld, daß sie derart heruntergekommen war. Aus diesem Grund war er ihr böse, weil sie sich dermaßen gehen ließ: ein trauriges, verwahrlostes Gesicht auf einem müden Frauenkörper. Was eine unbewußte, auf ihre Weise jedoch hinterhältige Art war, die Opfer zur Schau zu stellen, die sie für ihn gebracht hatte. Es war eine Anklage, eine Vorhaltung, ein kleinlicher Vorwurf. Dabei war das nur das andere Gesicht ihrer Frustration. Aber was für eine Schuld hatte er am Versagen einer Frau, die zum Versagen bestimmt war?   - Antonio Tabucchi. Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung. München 1999  (zuerst 1985)

Frau, müde (2) Eine Weile stand sie da und sah mit grenzenloser Verachtung auf Ma Jung herab, die Arme in die Seite gestemmt, die Beine gespreizt. Ihm brach der kalte Schweiß aus, während er völlig erstarrt auf seinem Stuhl saß. Wie in einem Traum beobachtete er, wie sie sich abrupt umdrehte und von einem Eisenhaken an der Wand eine Schnur löste. Ein Vorhang aus bemaltem Stoff senkte sich langsam von den schwarzen Deckenbalken herab unc teilte den Raum in zwei Hälften. Sie schüttelte ihr Haar undi verschwand hinter dem Vorhang.

Das Feuer schien langsam auszugehen, Ma Jung hatte die volle Bedeutung ihrer Worte nicht verstanden, aber sie erfüllten ihn mit einem schrecklichen Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, blickte er starr auf die sonderbaren Symbole, die auf dem Vorhang abgebildet waren. Plötzlich riß ihn das scharfe Klingeln des Bronzeglöck-chens aus seiner geistigen Betäubung. Tala stimmte einen monotonen Gesang in einer fremden Sprache an. Zuerst stieg er an, dann erstarb er, um mit dem Klingeln der Glocke wieder aufzuleben. Es wurde wärmer im Zimmer, und gleichzeitig überlagerte ein ekelerregender Geruch den angenehmen Kampferholzduft. Allmählich wurde es heiß; Schweiß strömte Ma Jungs Rücken hinab und durchtränkte seine Jacke. Plötzlich verwandelte sich die Melodie in einen klagenden Singsang. Das Klingeln der Glocke hörte auf. Ma Jung ballte seine großen Fäuste in ohnmächtiger Wut, die Fingernägel in die schwieligen Handflächen grabend. Der Magen drehte sich ihm um.

Gerade als er dachte, daß er sterbenskrank würde, reinigte sich plötzlich die Atmosphäre. Der klare Kampferholzduft verdrängte den widerlichen Gestank, und die Hitze im Zimmer ließ nach. Für eine Weile herrschte Grabesstille. Dann erklang, sehr müde, die Stimme der Frau hinter dem Vorhang:

»Ziehen Sie den Vorhang hoch und befestigen Sie die Schnur.«

Gemahlin eines Gottes

Ma Jung erhob sich steif und tat, wie ihm geheißen worden war. Er wagte nicht, sie anzusehen. Als er die Schnur am Haken befestigt hatte und sich umdrehte, sah er sie ausgestreckt auf der Holzpritsche liegen, den Kopf auf ihrem Arm, die Augen geschlossen. Ihr langes Haar hing auf den Fußboden hinab. »Kommen Sie her!« befahl sie, ohne die Augen zu öffnen. Ma Jung setzte sich auf den Bambusschemel am Fuße des Bettes. Er bemerkte, daß Talas Körper von einem dünnen Schweißfilm bedeckt war. Ihre Unterlippe blutete.

»Das Mädchen Jade wurde vor zwanzig Jahren geboren, am vierten Tag des fünften Monats im Jahr der Maus. Sie starb letztes Jahr am zehnten Tag des neunten Monats im Jahr der Schlange. An einem gebrochenen Hals.«

»Wie... wer hat...?« begann Ma Jung.

»Das ist alles, was ich erfahren habe. Ich habe auch etwas über mich selbst erfahren. Ohne danach gefragt zu haben. Gehen Sie!«

Ma Jung nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Ich muß Ihnen befehlen, mir mehr Einzelheiten zu verraten. Andernfalls sehe ich mich gezwungen, Sie zum Gericht mitzunehmen, um...«

Träge streckte sie ihre Hand aus, immer noch ohne ihn anzusehen.

»Zeigen Sie mir Ihren Haftbefehl!«

Als Ma Jung nicht antwortete, hob sie plötzlich ihre schweren Augenlider. Er sah, daß ihre Augen blutunterlaufen waren, sie wirkten gebrochen, wie tot. Ma Jung verspürte einen Würgereiz.  - Robert van Gulik, Das Phantom im Tempel. Zürich 1989

 

Frau Müdigkeit

 

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