Frau, irre

 

- Otto Dix

Frau, irre (2)  Von der Tür her drang ein leises Knistern und das schwache Knarren der Türangeln. Da dieser Teil des Zimmers in vollkommenem Dunkel lag, konnte Crane nichts erkennen. Er wußte natürlich, daß es der Mörder sein mußte, und fühlte, wie ihn eine schreckliche Lähmung ergriff. Es war ein merkwürdiges Gefühl von Bewegungsunfähigkeit, wie er es manchmal in Träumen gehabt hatte, wenn er über eine Klippe rutschte oder in einem nicht funktionierenden Auto einen Hügel hinunterraste, aber er wußte, daß er jetzt nicht träumte. Das Geräusch kam auf leisen Sohlen näher, direkt und unbarmherzig auf ihn zu. Er hielt den Atem an, während ihm der Gedanke durchs Gehirn fuhr, daß es Dr. Liver-

more sein mußte. Er fragte sich, ob der Arzt ein Messer bei sich hätte oder ihn erwürgen wollte, getraute sich aber nicht, sich zu bewegen oder zu schreien, falls der Doktor eine Pistole hatte.

Jetzt war das Geräusch ganz nahe am Bett, und außer dem Mondlicht auf dem Boden sah man noch etwas glänzen. Plötzlich beugte sich eine Gestalt über Crane, der im Bett hochfuhr und sie packte und über sich zog, wobei seine Finger nach der Kehle suchten. Gleichzeitig riß er mit einem um den Eindringling geschlungenen Bein diesen um und wälzte sich auf ihn.

Er lag auf einer Frau, und sie war nackt. Sie griff mit beiden Händen nach seinem Kopf und küßte ihn. Es war Mrs. Heyworth, und er sah ihre Augen im Mondlicht irr glänzen. Crane machte sich von ihr frei, und für einen Moment schaltete er völlig ab. Er hörte sich selbst schreien, dann sprang er aus dem offenen Fenster. - Jonathan Latimer, Mord bei Vollmond. Zürich 1991 (zuerst 1935)

Frau, irre (3)

Frau, irre (4)  Da kommt die Wahnsinnige vorübergetänzelt, wobei sie sich undeutlich an etwas erinnert. Die Kinder verfolgen sie mit Steinwürfen, als wäre sie eine Amsel. Sie droht mit einem Stock und macht Miene, sie zu verfolgen, dann tänzelt sie weiter. Sie hat unterwegs einen Schuh verloren und merkt es nicht. Lange Spinnenbeine laufen auf ihrem Nacken umher; es sind aber nur ihre Haare. Ihr Antlitz hat nichts Menschliches mehr und sie bricht plötzlich in Gelächter aus wie die Hyäne. Sie stammelt Satzfetzen, in denen, wollte man sie zusammenflicken, sehr wenige einen klaren Sinn erkennen würden. Ihr an vielen Stellen durchlöcherter Rock bewegt sich ruckweise um knochige, kotbespritzte Beine. Sie zieht ihres Weges, davongetragen wie das Blatt der Pappel, sie, ihre Jugend, ihre Hoffnungen und ihr einstiges Glück, auf das sie durch den Nebel ihres vom Wirbel unbewußter Kräfte zerstörten Verstandes zurückblickt. Dahin sind ihre Anmut und frühere Schönheit; ihr Gang ist gemein und ihr Atem riecht nach Branntwein. - (mal)
 
 

Frau Irre

 

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