Frau, hypochondrische   Meine Gedanken liefen im Krebsgang. Plötzlich tauchte Melanies Bild auf. Sie war immer da, wie ein fleischiger Tumor. Etwas Tierisches und zugleich Engelhaftes war an ihr. Immer humpelte sie umher, sprach ihre Worte gedehnt, brummte und plapperte dummes Zeug, ihre riesigen, melancholischen Augen lagen wie heiße Kohlen in ihren Hohlen. Sie war eines von diesen schönen hypochondrischen Wesen, die, indem sie geschlechtslos werden, die geheimnisvollen sinnlichen Eigenschaften der Geschöpfe annehmen, die die apokalyptische Menagerie von William Blake bevölkern. Sie war in ungewöhnlichem Maße zerstreut, nicht was die gewöhnlichen Nichtigkeiten des Alltagslebens betrifft, sondern bezüglich ihres Körpers.. Sie fand durchaus nichts Ungewöhnliches dabei, mit unverhüllten, vollen milchweißen Titten in der Wohnung umherzulaufen, während sie die nie enden wollende Hausarbeit verrichtete. Maude schimpfte sie immer heftig aus, war stets wütend über Melanies Schamlosigkeiten, wie sie es nannte. Aber Melanie war so unschuldsvoll wie ein verrückter Otter. Und wenn das Wort Otter befremdlich klingt, so nur darum, weil es so treffend ist. Bei Melanie kamen mir immer alle möglichen absurden Bilder in den Sinn. Sie war sozusagen nur «leicht» verrückt. Je mehr ihre geistigen Fähigkeiten versiegten, desto dominierender wurde ihr Körper. Ihr Verstand war ins Fleischliche herabgesunken, und wenn sie linkisch und närrisch in ihren Bewegungen war, dann nur darum, weil sie mit diesem fleischlichen Körper dachte und nicht mit ihrem Gehirn. Was immer an Sex in ihr war, schien über den Körper verteilt zu sein. Es war nicht mehr lokalisiert, weder zwischen ihren Beinen noch sonstwo. Sie hatte keinerlei Schamgefühl. Das Haar ihrer Möse, hätte sie dieses zufällig am Frühstückstisch, während sie uns bediente, enthüllt, unterschied sich für sie in nichts von ihren Zehennägeln oder ihrem Bauchnabel. Ich bin sicher, wenn ich jemals geistesabwesend ihre Möse gestreichelt hätte, während ich nach der Kaffeekanne griff, hätte sie nicht anders reagiert, als würde ich ihren Arm berührt haben. Oft, wenn ich ein Bad nahm, öffnete sie völlig unbeteiligt die Tür und hängte die Handtücher auf das Gestell über der Wanne, wobei sie sich mit schwacher, zurückhaltender Stimme entschuldigte, doch ohne jemals den leisesten Versuch zu machen,  ihren Blick abzuwenden. Manchmal verweilte sie bei solchen Gelegenheiten einige Augenblicke und unterhielt sich mit mir - über ihre Tierlieblinge, ihre entzündeten Fußballen oder das morgige Mittagessen —, wobei sie mich mit völliger Ungeniertheit ansah, nie im geringsten verlegen. Wenn sie auch nicht mehr jung war und weißes Haar hatte, war ihr Fleisch doch lebendig, beinahe empörend lebendig für jemanden in ihrem Alter. Natürlich bekam ich hin und wieder eine Erektion, wenn ich in der Wanne lag und sie mich unverfroren betrachtete und reinen Unsinn schwatzte. Ein paarmal hatte Maude uns überrascht. Sie war natürlich entsetzt. «Du bist wohl verrückt», sagte sie zu Melanie. «Meine Güte, was für ein Getue du machst!» antwortete die darauf. «Ich bin sicher, daß Henry nichts dagegen hat», und sie lächelte dieses melancholische, sehnsüchtige Lächeln hypochondrischer Menschen. Dann schlurfte sie in ihr Zimmer davon.  - Henry Miller, Sexus. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1947)
 
 

Hypochonder Frauenleiden

 

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