ortgang
Wäre jemand anderes an unserer Stelle gewesen, er hätte sich vermutlich
auch nicht der Aura GOLEMs entziehen können. Wir lebten in ihrem Bannkreis.
Deshalb war sein plötzlicher Fortgang für uns so erschütternd. Einige Wochen
hindurch lebten wir wie im Belagerungszustand, überhäuft von Telegrammen und
Telefonanrufen, ausgefragt von Regierungskommissionen und Pressevertretern,
und dabei ratlos in einem Maße, daß man verrückt werden konnte. Man stellte
uns immer wieder dieselbe Frage, was mit GOLEM geschehen sei, der sich ja physisch
nicht von der Stelle gerührt hatte, aber mit seiner ganzen riesigen Masse wie
leblos dalag und schwieg. Von einem Tag auf den anderen wurden wir zu Konkursverwaltern,
und da wir gegenüber der erstaunten Welt zahlungsunfähig waren, hatten wir nur
die Wahl zwischen unseren eigenen Vermutungen oder dem Eingeständnis völliger
Unwissenheit, die uns niemand glaubte. Wir fühlten uns betrogen und verraten.
Heute sehe ich jene Zeit in einem anderen Licht. Nicht etwa, weil ich, was GOLEMs
Fortgang betrifft, zu irgendeiner Gewißheit gelangt wäre. Natürlich habe ich
mir darüber ein Urteil gebildet, doch habe ich es nicht öffentlich geäußert.
Man weiß noch immer nicht, ob er auf unsichtbare Weise eine kosmische Wanderung
angetreten hat oder ob er durch einen Fehltritt auf einer der oberen Sprossen
jener toposophischen Leiter, von der er zuletzt sprach, zusammen mit HONEST
ANNIE umgekommen ist. Wir wußten damals nicht, daß es seine letzte Vorlesung
war. Wie immer in einer solchen Situation wurde eine Unmenge von naiven, sensationellen
und bizarren Behauptungen aufgestellt. Es fanden sich Menschen, die in der kritischen,Nacht
über dem Gebäude einen schimmernden Nebel, ähnlich dem Polarlicht, gesehen hatten,
der dann aufstieg und in den Wolken verschwand. Auch fehlte es nicht an solchen,
die gesehen haben wollten, wie Lichtfahrzeuge auf dem Dach landeten. In der
Presse hieß es, GOLEM habe Selbstmord begangen, und er suche die Mcaschen in
ihren Träumen heim, doch hatten wir den Eindruck, einige Dummköpfe hätten sich
speziell verschworen und bemühten sich nach Kräften, GOLEM in dem trüben Gemenge
mythologischen Spülichts zu ersäufen, das für unsere Zeit so typisch ist. Es
hat kein Nordlicht und keine sonst außergewöhnlichen Erscheinungen gegeben,
keine Heimsuchungen und auch keine Geistererscheinungen, es ist gar nichts geschehen,
außer daß die Aufnahme elektrischer Leistung in beiden Gebäuden um zwei Uhr
zehn in der Nacht kurzfristig anstieg und einen Augenblick später ganz aufhörte.
Außer dieser Spur in den Aufzeichnungen der Stromzähler hat man nichts gefunden;
GOLEM entnahm dem Netz zehn Minuten lang neunzig Prozent der zulässigen Leistung
und HONEST ANNIE vierzig Prozent mehr als sonst. Nach den Berechnungen von Dr.
Viereck haben beide die gleiche Menge Kilowatt verschlungen, denn HONEST ANNIE
erzeugte die von ihr benötigte Energie normalerweise selbst. Wir schlossen daraus,
daß es sich nicht um einen Unfall oder Defekt handelte, auch wenn gerade das
vielfach behauptet wurde. Untersuchungen durch unsere Fachleute, die erst nach
einem Monat aufgenommen wurden - denn solange dauerte es, bis man die Erlaubnis
zu einer »Obduktion« erhalten hatte - ergaben, daß die Verbindungen zwischen
den Grundkomplexen zerstört waren, sowie schwache Herde von Radioaktivität in
den Josephsonschen Untersystemen. Nach Ansicht der meisten Fachleute waren
das absichtlich hervorgerufene Zerfallserscheinungen, mit denen gewissermaßen
die Spuren dessen, was zuvor geschehen war, verwischt werden sollten. Beide
Maschinen hatten demnach etwas getan, wozu sie keinerlei zusätzliche Energie
benötigten, sondern hatten diese lediglich dazu benutzt, um alle Versuche zunichte
zu machen, sie wieder instandzusetzen oder - falls jemand diesen Ausdruck vorzieht
- wiederzubeleben. - Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main
1986 (zuerst 1973)
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