lut  Voller Bestürzung beobachtete der alte Mann, wie der Wasserarm, durch den er sich hindurchquälte, jetzt anschwoll und eigene Finger ausstreckte. Es reichte ihm jetzt fast bis an die Waden, und der vorderste Rand des Wassers entfernte sich immer weiter von ihm, während er sich darauf zu schleppte. Sein Herz hämmerte bei jedem einzelnen torkelnden Schritt durch den saugenden Sand, und ihm war gleichzeitig heiß und kalt vor Angst.

Eiskaltes Wasser begann in seine Stiefel zu schwappen, was ihn nur noch mehr herunterzog und seine Glieder krampfartig zittern ließ.

Die Stiefel, dachte er. Wenn er sie ausziehen könnte... Aber er wußte, daß er es sich nicht leisten konnte, im ständig steigenden Wasser stehenzubleiben, und er wußte, daß er auch gar nicht die Kraft dazu hatte; nicht mit nur einer gesunden Hand. In wachsender Verzweiflung riß er statt dessen seine Pelzkappe herunter und warf sie fort. Der eisige Schneeregen, der daraufhin auf seinen Nacken einpeitschte, ließ ihn laut aufschreien und so krampfartig zittern, daß er kaum noch etwas sehen konnte. Das Wasser quatschte in seinen Stiefeln, und sein Atem brannte wie Feuer in der Kehle, doch er schaffte noch drei blinde Schritte, bevor er schließlich in den Treibsand stolperte.

Der berüchtigte sable mouvant der Bucht von Mont St. Michel ist kein Treibsand, genaugenommen, keine rutschige, sich bewegende Masse aus feinkörnigem Sand und nach oben aufsteigendem Wasser; es ist ein Phänomen, das einzigartig für dieses riesige Watt ist: tiefe, mit Wasser gefüllte Taschen, von einer Schicht Sand bedeckt, der irgendwie darauf treibt. Von den Zinnen des Nordturmes waren sie nicht zu sehen, und für die kleine, erregte Zuschauermenge, die sich dort versammelt hatte, schien es, als würden die Beine des taumelnden Mannes dort unten auf der sich verdunkelnden Ebene plötzlich verschwinden. Eine Frau schrie auf und preßte ihre Hand auf den Mund. Die anderen schauten gebannt und bestürzt schweigend zu. Unten kämpfte die winzige Figur verzweifelt, schlug wie wild mit einem Arm auf das immer noch seichte Wasser ein und versank dadurch nur noch schneller.

Bis zum letzten Augenblick, als sich das Wasser ruhig über seinem Kopf schloß, zappelte er so verzweifelt, daß es aussah, als müßte er wieder hochkommen, doch die Wasseroberfläche blieb völlig glatt, abgesehen von einem harmlosen Kräuseln, das die Stelle markierte, an der er sich gerade noch befunden hatte. Und innerhalb weniger Sekunden war es, als wäre er überhaupt niemals dort draußen gewesen. - Aaron Elkins, Alte Knochen. Zürich 1992 (Haffmans TaschenBuch 141, zuerst 1987)

Flut (2)

Schon will die Erde er ganz übersäen mit Blitzen, da kommt ihm
aber die Furcht, es möge der heilige Äther von soviel
Feuer geraten in Brand und die Achse, die lange, entflammen.
Auch erwägt er, es solle nach Schicksalsbeschluß eine Zeit einst
kommen, da Erde und Meer, da die Burg des Himmels, entzündet,
brenne und wanke gefährdet des Weltbaus kunstvoll Gefüge, —
legt das Geschoß, das die Hand der Cyclopen geschmiedet, beiseite;
gegensätzliche Strafe beschließt er: zu tilgen der Menschen
Stamm unter Fluten und Güsse vom ganzen Himmel zu fällen.

Also schließt er sogleich in des Aeolus Höhle den Nordwind,
all die anderen auch, die Wolken im Aufziehn vertreiben.
Südwind sendet er aus. Mit den nassen Fittichen flog der,
pechschwarz Dunkel deckt sein schrecklich Gesicht; aus dem Barte
strömt es von Regen schwer, aus den grauen Haaren es flutet;
Nebel umlagern die Stirn, es trieft vom Gewand und den Federn.
Als das Gewölk, das weithin hangt, mit der Hand er gepreßt, da
birst es und bricht es herab in dichten Güssen vom Himmel.

Iris, die Botin der Juno, gehüllt in die mancherlei Farben,
zieht die Wasser empor und bringt sie den Wolken zur Nahrung.
Nieder schwemmt es die Saaten, da liegt, beweint, des Bebauers
Hoffnung: dahin des langen Jahres vergebliche Mühe.

Und sein Himmel genügt dem Zorne Juppiters nicht, sein
Bruder im Meere schickt ihm das Heer seiner Wogen zu Hilfe.
Dieser ruft seine Flüsse zusammen. Sobald ihres Fürsten
Haus sie betreten, spricht er zu ihnen: „Kein langes Ermahnen
braucht es jetzt hier. Ergießt mit aller Macht eure Kräfte!
Das nur ist not. Eure Stuben sperrt auf, spült hinweg eure Dämme,
und euren Fluten laßt die Zügel allesamt schießen!"
So befiehlt er. Sie gehn und lösen den Mund ihrer Quellen,
wälzen zum Meere sich hin, entzügelten Laufes. Er selber
aber, er stößt seinen Dreizack hinein in die Erde. und die er-
bebt und öffnet, erschüttert, den Weg verborgenen Wassern.
Ausgebrochen fluten die Flüsse dahin über offne
Felder, reißen die Saaten, die Bäume, das Vieh und die Menschen,
Dächer und Kammern mitsamt den Hausaltären von hinnen.
Blieb ein Gebäude und konnte dem mächtigen Drange des Unheils
unzerstört widerstehn, so deckten höher doch steigend
Wellen den First; unter Strudeln verborgen standen die Türme.

Und schon ließ sich See und Land nicht mehr unterscheiden.
Da war alles Meer; und dem Meere fehlten die Ufer.
Der ersteigt einen Hügel, ein anderer sitzt in dem hohlen
Nachen und führt die Ruder jetzt da, wo er neulich gepflügt hat.
Jener schifft über Saaten dahin, übers Dach des versunknen
Hofes, und dieser fängt einen Fisch im Wipfel der Ulme.
Anker geworfen wird vielleicht auf grünender Wiese,
oder es streift der geschwungene Kiel die Höhe des Weinbergs,
und, wo eben noch Gräser genascht die zierlichen Geißen,
dorthin betten jetzt ihre plumpen Leiber die Robben.
Unter dem Wasser bestaunen die Töchter des Nereus die Haine,
Städte und Häuser; es tummeln im Wald sich Delphine, sie stoßen
gegen das hohe Gezweig und erschüttern mit Schlägen die Stämme.
Schwimmt zwischen Schafen der Wolf, entführt die Woge die fahlen
Löwen, die Woge die Tiger; nichts frommt dem Eber der Hauer
Blitzkraft, nichts dem treibenden Hirsch die Schnelle der Schenkel.
Und, der schweifend lange nach Erde gesucht, die zum Sitz ihm
diene, der Vogel sinkt ins Meer mit ermatteten Schwingen.
Willkür unermeßlicher See hat die Hügel verschüttet,
und es umbrandet das fremde Gewog die Gipfel der Berge.

- (ov)

Flut (3)  Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern. In diesem in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, konnten sich nicht mehr verständigen, sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stießen die schwächeren Weiber in die Aasflut, wo sie, von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der große Platz glich einer gigantischen Kloake, in welcher man mit letzter Kraft einander würgte und biß und schließlich verendete.

Aus Fensterlöchern hingen die starren Leiber entseelter Zuschauer, deren gebrochene Blicke dieses Königreich des Todes spiegelten.

Verrenkte Arme und Beine, gespreizte Finger und geballte Fäuste, geblähte Tierbäuche, Pferdeschädel, zwischen den langen gelben Zähnen die wulstige blaue Zunge weit vorgestreckt, so schob sich die Phalanx des Untergangs unaufhaltsam vorwärts.  - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Gezeiten Verschwinden
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