Flüchtigkeit  Das Leben ist eine organisierte Ausbreitung von Energien, die die physiologischen Zellen zwingen, sich unaufhörlich zu verändern und zu erneuern.

Diesen Vorgang kennt man unter dem Namen »Metamorphose«, und das organisierte Leben des Menschen ist teilweise von den Gegebenheiten der biologischen Phänomene geleitet.

Man hat versucht, gewisse Augenblicke des Gesellschafts-Lebens abzutrennen, und man nannte diese »Situationen«.

Die Situation ist der stabilisierte Zustand der Mutation, der universellen und unbeständigen Metamorphose.

Die Metamorphose beherrscht in Wirklichkeit den gesamten materiellen, selbst den psychomorphologischen und sozialen Zustand.

Unter diesen Bedingungen kann die Situation nicht anders sein als bedingt und vorübergehend.

Die Situation ist ein künstlicher Halt einer ständigen Bewegtheit und sie sollte nicht, als Zustand, als der Beachtung wert angesehen werden.

Die Situation ist der offensichtliche Gegensatz der Metamorphose, und somit wird sie historisch, das heisst, erstarrt, in unilateraler Geschlossenheit, die sich nicht den vielwertigen Phänomenen der sich dauernd verändernden Strukturation der sozialen Entwicklung anpasst.

Alle historisch gewordenen Phänomene sind flüchtig und vorübergehend, und sie sollten keinen Einfluss weder auf die notwendigen sozialen, noch intellektuellen Reaktionen und Handlungen haben.

Da die Haltung des tätigen Menschen von der strengsten Gewissenhaftigkeit und der grössten Verantwortlichkeit durchtränkt sein sollte, so erlaubt ihm die psycho-morphologische Situation nicht, die notwendigen Lösungen zu finden.

Die Situation ist also nicht des Beachtens wert, noch der Anwendung auf biologischem Gebiet, sie ist nichts als eine »philosophische« Fiktion. - Raoul Hausmann, Die exzentrische Empfindung. Graz 1994 (zuerst 1970)

Flüchtigkeit (2)  Ab und zu nehmen wir flüchtig etwas wahr, wir spüren, daß etwas Wesentliches uns gestreift hat, etwas Außergewöhnliches -wenn zum Beispiel die lächelnde kleine Italienerin sich von uns verabschiedet hat. Für einen Augenblick sind wir wie betäubt. Was war das? Wir können es nicht benennen; wir wissen, es wird sich niemals verständlich machen lassen; die Menschen werden alle längst tot sein, bevor sie dem auch nur nahegekommen sind. Ganze Leben werden mit den enormen Begebenheiten des Alltags verbracht, ohne den großartigen Dingen, die ich täglich zu sehen bekomme, auch nur nahezukommen. Meine Patienten haben keine Ahnung, was mit ihren Männern und Kindern, ihren Frauen und Bekannten los ist. Dabei müssen wir einander gar nicht so fremd sein, wir müssen nur auf Trägheit, Gleichgültigkeit und die ewige törichte Ignoranz verzichten.

Für mich ist daher der Arztberuf gleichbedeutend mit der Jagd nach raren Stoffen, die sich jederzeit und an jedem Ort dem Blick darbieten können. So was kann überaus peinlich sein. Jeden Augenblick kann gegenseitiges Erkennen aufleuchten.  - (wcwa)

 

Dauer Verschwinden

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Augenblick
Synonyme