ließen «Ich liebe alles, was fließt», sagte der große blinde Milton unserer Zeit. Ich dachte heute morgen beim Erwachen mit einem großen lauten Freudenschrei an ihn: ich dachte an seine Flüsse und Bäume und die ganze nächtige Welt, die er erforscht. Ja, sagte ich zu mir, auch ich liebe alles Fließende: Flüsse, Kloaken, Lava, Samen, Blut, Galle, Worte, Aussprüche. Ich liebe das Fruchtwasser, wenn es aus der Embryonalhülle spritzt, ich liebe die Niere mit ihren schmerzenden Nierensteinen, ihrem Grieß und was nicht noch alles; ich liebe den brühheiß herausrinnenden Urin und den endlos laufenden Tripper; ich liebe die Worte der Hysterischen und die Aussprüche, die wie Ruhr rinnen und alle kranken Bilder der Seele widerspiegeln; ich liebe die großen Ströme wie den Amazonas und den Orinoko, auf denen Verrückte wie Moravagine in einem offenen Boot durch Traum und Legende dahintreiben und in der verborgenen Flußmündung ertrinken. Ich liebe alles, was fließt, sogar den Menstruationsfluß, der den unfruchtbaren Samen wegschwemmt. Ich liebe fließende Schriften, mögen sie hieratisch, esoterisch, pervers, vielgestaltig oder einseitig sein. Ich liebe alles, was fließt, alles, dem Zeit und Reiz innewohnt, das uns zurückversetzt an den Anfang, der nie endet: das Ungestüm der Propheten, die Obszönität, die Ekstase ist, die Weisheit des Fanatikers, den Priester mit seiner Gummilitanei, die gemeinen Worte der Hure, den im Rinnstein wegfließenden Speichel, die Milch der Mutterbrust und den aus dem Schoß tropfenden bitteren Honig, alles, was fließt, schmilzt, aufgelöst ist und sich auflöst, den ganzen Eiter und Unrat, der im Fließen geklärt wird, das Gefühl seiner Herkunft verliert, den großen Kreis hin zu Tod und Auflösung beschreibt. Der große, blutschänderische Wunsch ist, weiterzufließen, eins mit der Zeit, die große Vorstellung vom Jenseitigen mit dem Hier und Jetzt zu verschmelzen. Ein einfältiger, selbstmörderischer Wunsch, der durch Worte gehemmt und durch Denken gelähmt wird. - (krebs)

Fließen (2)  Im Kopf, doch fast wie neben mir - das Bild von einer »Zeit«, wie sie »fließt«; wie ist das nun. Woher dies unumkehrbar Fließende im Bild? Wem fließt, was nicht zu Gebote steht, wann wo durch. Und wie? Von gestern ins Heute, von hierjetzt nach Morgen? Oder aus dem was kommt in das was ist zu dem was war. Oder gewesen wäre? Dumme Frage. Unwiderbringlich dumm, weil (oder seit) ich sie stelle. Sprache macht Halt- und macht halt manches möglich, das ungefragt nicht wäre. Nur, wenn ich sage ABCDBCA-tut das der Zeit etwa weh? Habe ich sie gegen ihren Strich gebürstet, wenn (oder weil) das Alphabet seine Richtung verläßt und sich erinnert? Schert die Zeit sich überhaupt um meinen Text, der sich doch offensichtlich sehr um sie schert, indem er sie zu ignorieren, ja zu tilgen trachtet? Für wen halte ich mich, da sie, so demonstriert mein Text, unbeirrt weiterfließt, oder plätschert, oder weißgottwas. Wo ich sie packe, läßt sie mich auflaufen. Wo sie mich packt, klammere ich mich fest, und aus: sie kann die Wörter und die Silben nicht schlucken, wir bleiben uns im Hals stecken, sie stopft mir ihren Finger in den Hals - schon würgt sich was raus, bis hin wo nichts war vor dem Anfang, kein Wort, keine Zeit: eine Bescherung! Was weitergeht, kommt unter den Hammer. Was stehnbleibt, geht über die Hutschnur: hutsch nur, hin und her, Kopfnuß Janus-kopf, Schnippchen und Schnäppchen gegen den Lauf der Welt, meine Hängematten, Durchhänger, Staudämme aus Schaukelsätzen, oder, bitte: widerläufig geknüpfte Haken im Fleisch der Zeit: wie man mit Palindromen Ohren wie Forellen fängt, etwas wie Vergewisserung - es gab uns doch, es gab sie doch. - Oskar Pastior, Nachwort zu (palin)
 
Strom Zeit Bewegung
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