Fleisch, angegangenes    Da, in Zornhof, bei der Inge kam es in Anbetracht unserer Lage und der Zeitläufte nicht in Frage, daß ich den Kostverächter spielte... auch nicht den Skeptiker oder den Lauen... im Gegenteil, sehr interessiert!... ich konnte ihre Formen ein bißchen erraten... ich sollte es!... im Neglige, großer Morgenrock mit Rüschen... Atlas, Musselin ... rosa und grün... ich sollte darunter einen entzückenden, begehrenswerten Körper entdecken, ich sollte verwirrt sein... stottern, erröten, keine Worte finden... all das!...

Sie liegt da... na ja, fast... es reicht, daß ich ihre Beine sehen kann, und sogar ein bißchen die Schenkel... durch den Ausschnitt auch die Brüste, ohne Büstenhalter... der Augenblick ist gekommen, wo alle Literaturen, des Zeitungsstandes oder des Goncourt, der Sakristeien oder der Rauchzimmer, lossabbeln... «die seidige, erlesene Haut, die edel geschwungenen Hüften...» Ich fühle, ich sollte auch lyrisch loslegen... aber leider habe ich kein Gefühl und auch keinen Sinn mehr dafür!... wohlgemerkt, früher hätt ich's gekonnt!...

Egal, welcher Sekte, Akademie oder sogar welcher Café-Terrasse der Verfasser angehört, die Literatur wie die Salons warten immer, bis das Fleisch ein bißchen angegangen ist, um dann ganz weg vor Bewunderung zu sein... es ist was vom Schakal in ihren Urteilen... beim Wahren, beim Neuen wagen sie's nicht... eine gewisse Scham... man muß ihnen ein bißchen die Krampfadern zeigen, viele Schwangerschaftsstriemen, Knöchel mit Ödemen, damit die richtige Begeisterung sie packt... nur noch Knochen, oder halbfett, Gänseleber... aber da in Zornhof, von wegen, war nicht der Augenblick, Fisimatenten zu machen!... La Vigue auch nicht: entzückt sein, hieß es! wo ich sie da ganz nah sah, muß ich gestehen, daß sie sich gut gehalten hatte ... die Schenkel, die Brüste, das Gesicht... bestimmt Tochter gesunder Eltern, keine Alkoholiker oder Syphilitiker... in den ostpreußischen Wäldern aufgewachsen, gut ernährt... Schande und Not, das furchtbare Handikap der Kinder armer Eltern! ich weiß, was ich sage...

Tatsächlich, in unserer Situation mußten wir höchst geschmeichelt, ja sogar geil sein, daß Inge, eine belle foâmme, schöne Reste, auch wenn's der Goldfisch da oben oder die Kretzer gewesen wäre, ob sie fünfzehn oder hundert Jahre war... über die Ehre, die sie uns erwies ... uns als Halbakt zwischen Stickereien, Seide, Musselin zu empfangen... wir würden es nicht an dem schuldigen Respekt fehlen lassen! bei Gott, bestimmt nicht!... dann schon lieber Blausäure!    - Louis-Ferdinand Céline, Norden. Reinbek bei Hamburg 2007 (zuerst 1964)

Fleisch

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