laneur Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspielt von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb. - (hes)

Flaneur (2) Zwei Schüler stehen vor einer Litfaß-Säule und spucken auf ein Plakat. Dann lachen sie über die Spucke, die die Litfaß-Säule herunterrinnt. Ich gehe ein wenig schneller; früher war ich solchen Vorkommnissen gegenüber viel duldsamer. Ich bedaure, daß ich neuerdings so schnell abgestoßen bin. Wieder fliegen ein paar Schwalben durch die Fußgänger-Unterführung. Sie stürzen die U-Bahn-Station hinab und stoßen acht oder neun Sekunden später durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder nach oben. Ich würde gerne selber die Fußgänger-Unterführung durchqueren und mich dabei seitlich von den rasenden Schwalben überholen lassen. Aber diesen Fehler darf ich nicht noch einmal machen. Vor etwa zwei Wochen habe ich diese Unterführung zum letzten Mal benutzt. Die Schwalben flitzten an mir vorüber, es dauerte leider nur zwei oder drei Sekunden. Dann entdeckte ich die nassen Tauben, die ich zunächst nicht gesehen hatte. Sie saßen zusammengedrängt in einer gekachelten Ecke. Zwei am Boden liegende Obdachlose versuchten, mit den Tauben Kontakt aufzunehmen. Weil die Vögel auf ihre Laute und Gesten nicht reagierten, verhöhnten die Obdachlosen die Tiere. Kurz danach sah ich auf meiner rechten Schuhspitze einen eingetrockneten Ketchup-Fleck. Ich wußte nicht, wie der Fleck dorthin geraten war, ich wußte nicht einmal, wie es möglich war, daß ich erst jetzt auf ihn aufmerksam wurde. Nie mehr gehst du durch diese Unterführung, sagte ich unernst zu mir selber. Auf der anderen Seite der Unterführung sehe ich Gunhild. Ich fürchte mich ein wenig vor Frauen, die Gunhild, Gerhild, Mechthild oder Brunhild heißen. Gunhild geht durch ihr Leben und macht kaum eigene Beobachtungen. Ich bin blind, sagt sie oft; sie sagt es scherzhaft, meint es aber ernst. Man muß ihr sagen, was sie sich anschauen könnte, dann ist sie zufrieden. Im Augenblick habe ich kein Bedürfnis nach einer Begegnung mit Gunhild. Ich weiche ihr aus, indem ich kurz in die Herderstraße zurücktrete. Wenn Gunhild ihre Augen öffnen würde, dann wüßte sie vielleicht, daß ich vor ihr fliehe, jedenfalls manchmal. - Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag. München 2003 (zuerst 2001)

Flaneur (3) Er war oft so absichtslos durch die Stadt gegangen, häufig nachmittags mit Gerald, dann ebenso häufig mit Rainer oder auch allein, nur um herumzugehen, zu sehen, sich treiben zu lassen, und solche Gänge zwischendurch gehörten ebenso selbstverständlich dazu, hier in der Stadt zu sein, mittendrin, wie die Aufenthalte in dem Parkstück mit ihr, dem Kind. Das Herumgehen hatte für ihn dieselbe geringe Bedeutung, nämlich einfach dazusein wie alles andere und alle, offen nach allen Seiten und noch nicht bedrückt, mit Absichten belastet, etwas anderes finden zu müssen als Beweis, daß mit ihr und ihm nur noch wenig stimmte, gerade weil scheinbar sich zwischen ihnen alles wie gewöhnlich ergab. Er hatte sie, wie sie ihn. Sie konnten zueinander hingehen, sich nebeneinanderlegen, aufeinander, sich zusammen bewegen, sprechen, nicht mehr sprechen, stumm sein, jeder in seinem eigenen Zimmer. Sie konnte ihn in Ruhe lassen, er sie. Das Kind tappte unsicher schwankend aus dem hinteren Zimmer in den Flur. Und das war wie gewöhnlich und immer weiter wie gewöhnlich. Es blieb so, wenn er draußen in der Stadt herumging, wie bei so vielen, den meisten anderen Leuten auch, konnte er sich dann sagen und fragen, was denn, übertreib nicht, oder: mach das doch nicht schlimmer, als es ist. Es war gar nicht schlimm. - (brink)

Flaneur (4)  Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der Menge. Frühe Beiträge zur Physiognomik der Menge finden sich bei Engels und Poe. Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide bauen dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsatz nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Streich des Flaneurs.

Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat, aber schon beginnt, mit dem Markt sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion. Diese kommt am sinnfälligsten bei den Berufsverschwörern zum Ausdruck, die durchweg der bohème angehören. Ihr anfängliches Arbeitsfeld ist die Armee, später wird es das Kleinbürgertum, gelegentlich das Proletariat. Doch sieht diese Schicht ihre Gegner in den eigentlichen Führern des letztem. Das Kommunistische Manifest macht ihrem politischen Dasein ein Ende. Baudelaires Dichtung zieht ihre Kraft aus dem rebellischen Pathos dieser Schicht. Er schlägt sich auf die Seite der Asozialen. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisiert er mit einer Hure.  - Walter Benjamin, Illuminationen. Frankfurt am Main 1977

Flaneur (5)   ‹Flanieren, das gibt es nicht mehr›, sagen die Leute. ‹Das widerspricht dem Rhythmus unserer Zeit›. Ich glaube das nicht. Gerade wer — fast möchte ich sagen: nur wer flanieren kann, wird danach, wenn ihn wieder dieser berühmte Rhythmus packt und eilig, konstant und zielstrebig fortbewegt, diese unsere Zeit umso mehr genießen und verstehn. Der andere aber, der nie aus dem großen Schwung heraus kommt, wird schließlich gar nicht mehr merken, daß es so etwas überhaupt gibt. In jedem von uns aber lebt ein heimlicher Müßiggänger, der seine leidigen Beweggründe bisweilen vergessen und sich grundlos bewegen möchte.  - Franz Hessel, Ermunterung zum Genuß. Berlin 1981
 

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