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Flaneur (2) Zwei Schüler stehen vor einer Litfaß-Säule
und spucken auf ein Plakat. Dann lachen sie über die Spucke, die die Litfaß-Säule
herunterrinnt. Ich gehe ein wenig schneller; früher war ich solchen Vorkommnissen
gegenüber viel duldsamer. Ich bedaure, daß ich neuerdings so schnell abgestoßen
bin. Wieder fliegen ein paar Schwalben durch die Fußgänger-Unterführung. Sie
stürzen die U-Bahn-Station hinab und stoßen acht oder
neun Sekunden später durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder nach oben.
Ich würde gerne selber die Fußgänger-Unterführung durchqueren und mich dabei
seitlich von den rasenden Schwalben überholen lassen. Aber diesen Fehler darf
ich nicht noch einmal machen. Vor etwa zwei Wochen habe ich diese Unterführung
zum letzten Mal benutzt. Die Schwalben flitzten an mir vorüber, es dauerte leider
nur zwei oder drei Sekunden. Dann entdeckte ich die nassen Tauben, die ich zunächst
nicht gesehen hatte. Sie saßen zusammengedrängt in einer gekachelten Ecke. Zwei
am Boden liegende Obdachlose versuchten, mit den Tauben Kontakt aufzunehmen.
Weil die Vögel auf ihre Laute und Gesten nicht reagierten, verhöhnten die Obdachlosen
die Tiere. Kurz danach sah ich auf meiner rechten Schuhspitze einen eingetrockneten
Ketchup-Fleck. Ich wußte nicht, wie der Fleck dorthin geraten war, ich wußte
nicht einmal, wie es möglich war, daß ich erst jetzt auf ihn aufmerksam wurde.
Nie mehr gehst du durch diese Unterführung, sagte ich unernst zu mir selber.
Auf der anderen Seite der Unterführung sehe ich Gunhild. Ich fürchte mich ein
wenig vor Frauen, die Gunhild, Gerhild, Mechthild oder
Brunhild heißen. Gunhild geht durch ihr Leben und macht kaum eigene Beobachtungen.
Ich bin blind, sagt sie oft; sie sagt es scherzhaft, meint es aber ernst. Man
muß ihr sagen, was sie sich anschauen könnte, dann ist sie zufrieden. Im Augenblick
habe ich kein Bedürfnis nach einer Begegnung mit Gunhild.
Ich weiche ihr aus, indem ich kurz in die Herderstraße zurücktrete. Wenn Gunhild
ihre Augen öffnen würde, dann wüßte sie vielleicht, daß ich vor ihr fliehe,
jedenfalls manchmal. - Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm
für diesen Tag. München 2003 (zuerst 2001)
Flaneur (3) Er war oft so absichtslos durch die Stadt
gegangen, häufig nachmittags mit Gerald, dann ebenso häufig mit Rainer oder
auch allein, nur um herumzugehen, zu sehen, sich treiben zu lassen, und solche
Gänge zwischendurch gehörten ebenso selbstverständlich dazu, hier in der Stadt
zu sein, mittendrin, wie die Aufenthalte in dem Parkstück mit ihr, dem Kind.
Das Herumgehen hatte für ihn dieselbe geringe Bedeutung, nämlich einfach dazusein
wie alles andere und alle, offen nach allen Seiten und noch nicht bedrückt,
mit Absichten belastet, etwas anderes finden zu müssen als Beweis, daß mit ihr
und ihm nur noch wenig stimmte, gerade weil scheinbar sich zwischen ihnen alles
wie gewöhnlich ergab. Er hatte sie, wie sie ihn. Sie konnten zueinander hingehen,
sich nebeneinanderlegen, aufeinander, sich zusammen bewegen, sprechen, nicht
mehr sprechen, stumm sein, jeder in seinem eigenen Zimmer. Sie konnte ihn in
Ruhe lassen, er sie. Das Kind tappte unsicher schwankend aus dem hinteren Zimmer
in den Flur. Und das war wie gewöhnlich und immer weiter wie gewöhnlich. Es
blieb so, wenn er draußen in der Stadt herumging, wie bei so vielen, den meisten
anderen Leuten auch, konnte er sich dann sagen und fragen, was denn, übertreib
nicht, oder: mach das doch nicht schlimmer, als es ist. Es war gar nicht schlimm.
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(
brink
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Flaneur (4) Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der Menge. Frühe Beiträge zur Physiognomik der Menge finden sich bei Engels und Poe. Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide bauen dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsatz nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Streich des Flaneurs.
Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn
anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem
Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat, aber schon beginnt, mit dem Markt
sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer
ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion.
Diese kommt am sinnfälligsten bei den Berufsverschwörern zum Ausdruck, die durchweg
der bohème angehören. Ihr anfängliches Arbeitsfeld ist die Armee, später wird
es das Kleinbürgertum, gelegentlich das Proletariat. Doch sieht diese Schicht
ihre Gegner in den eigentlichen Führern des letztem. Das Kommunistische Manifest
macht ihrem politischen Dasein ein Ende. Baudelaires Dichtung zieht ihre
Kraft aus dem rebellischen Pathos dieser Schicht. Er schlägt sich auf die Seite
der Asozialen. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisiert er mit einer
Hure. - Walter Benjamin, Illuminationen. Frankfurt am Main 1977
Flaneur (5) ‹Flanieren, das gibt es nicht
mehr›, sagen die Leute. ‹Das widerspricht dem Rhythmus unserer Zeit›. Ich glaube
das nicht. Gerade wer — fast möchte ich sagen: nur wer flanieren kann, wird
danach, wenn ihn wieder dieser berühmte Rhythmus packt und eilig, konstant und
zielstrebig fortbewegt, diese unsere Zeit umso mehr genießen und verstehn.
Der andere aber, der nie aus dem großen Schwung heraus kommt, wird schließlich
gar nicht mehr merken, daß es so etwas überhaupt gibt. In jedem von uns aber
lebt ein heimlicher Müßiggänger, der seine leidigen Beweggründe bisweilen vergessen
und sich grundlos bewegen möchte. - Franz Hessel, Ermunterung zum Genuß. Berlin 1981