Firmin    Der Onkel und die Tanti »Firmin«:  

Firmin riecht sauer, nach stickiger Luft oder chroni scher Krankheit, und das ist die ungemütliche Wohnunj nach mehreren Stockwerken mit einer harten Holztrep pe, jene Wohnung, in der das Ehepaar am Abend Schafskopf, Mikado oder das Flohspiel spielt. Was weiß ich noch? Zumindest, daß sie vorwiegend dann spielen, wenn Kinder wie meine Brüder und ich zu Besuch kommen, die sie gerne unterhalten möchten. Firmin, ein Name wie Wollfett, das ist dieser dicke, verwahrloste Mann mit einem ins Violette spielenden Gesicht, seinen »Atemnöten« (wie seine Gattin sich ausdrückte) und seiner Arteriosklerose,  die  er den  allzu zahlreichen Weingläsern verdankte, welche er den lieben, langen Tag lang zu leeren beliebte (ohne daß der Teure freilich ein Trunkenbold gewesen wäre!). Firmin, ein dickflüssiger und sirupartiger Name, und da wären noch die Brombeeren, auch ins Violette spielend und säuerlich im Geschmack (oder der sehr dunkle Tee mit einem gehörigen Schuß Rum?), die man uns, dünkt mir, zusammen mit kleinen trockenen Kuchen zu kosten gab, welche man nach Entfernung ihrer Papierhülle oder Entnahme aus einer Metalldose in eine geziemende Schale mit oder ohne gesticktem Tellerdeckchen legte. Firmin, ein fadenscheiniger und fahler Name, das ist parallel dazu die Ehefrau des Genannten, oder anders: die Pseudo-Tante, die man zur Familie zählte, weil sie irgend jemandes Tochter war, der jahrelang als Diener beim Vater meiner Mutter beschäftigt war, jenem meiner beiden Großväter, der ein hoher Funktionär der Pariser Stadtverwaltung und zudem ein wahrer Republikaner war — ein Titel, den man voll Stolz allen beiden Großvätern verleihen konnte.

Firmin, das ist die vertrocknete und gelbe Frau mit zager und hoher Fistelstimme, mit gebräunten Augenlidern und schwarzem Kopftuch? die sich bald in Jeremiaden über die Schmerzen ihres Gatten und ihre eigenen Beschwerden, bald in leerem Kleinmädchengefasel erging und dann den Drang verspürte, jeden mit einem Spitznamen auszustaffieren, als ginge es darum, nach ihrem Bedünken das Universum umzutaufen. So sprach sie vom »teuren Mimi«, der diese Nacht schon wieder an seinem Asthma gelitten hat, verbreitete das Neueste vom »Vater Regenschirm«, dem Ladeninhaber von unten oder nebenan (dessen Tätigkeit vielleicht wirklich darin bestand, Regenschirme unter die Leute zu bringen), erkundigte sich nach »Schweißfänger«, dem Bruder meines Vaters, den sie so getauft hatte, warum wußte kein Mensch je zu sagen. Am Abend ihres Hochzeitstages hatte sie sich geweigert, mit dem »teuren Mimi« das Bett zu teilen, Ausbund an Schamhaftigkeit! oder womöglich allzu sehr über der Sache stehender Dünkel... Sehr bald schon hatte sie »ihr Leiden« bekommen, das ein Nerven-spezialist — ohne durchschlagenden Erfolg — mit Suggestion und Elektrotherapie behandelte. Als der »teure Mimi« verblichen war, vertauschte sie den rötlichen Morgenmantel, in den fröstelnd gehüllt ich sie bis dahin immer nur gesehen hatte, mit einem Trauerkleid; dann zog sie sich ins Altersheim Sainte-Perine in unserem Viertel Auteuil zurück und lebte dort noch etliche Jahre, erblickte im Traum zuweilen den »teuren Mimi« zur Rechten des lieben Gottes sitzend, bildete sich ein, jede oder beinahe jede Nacht den Besuch des Dahingegangenen zu empfangen, und hatte früheren idiotischen Zerstreuungen abgeschworen, um höchstwahrscheinlich dazu überzugehen, Tische zu rücken, denn — wie jede große Nervöse, die etwas auf sich hält—gebot sie über beachtliche mediale Fähigkeiten... Firmin, das war dieser wackere Mann mit behäbigen und gewöhnlichen Manieren, den mein Vater in seinem Büro angestellt hatte und der dort die Ergebenheit eines guten Hundes an den Tag legte; Firmin, das war diese magere Frau mit blutleeren Lippen, ekstatischem Lächeln und, wie man hörte, verdrehten Augen, wenn sie ihre »Krise« hatte, diese Stu-benpythia oder Pensionärin der Salpetrière (»salle Petrière«, sagte ich), dieser Melissenwasserschwamm, der fast nie sein Heim und selbst nur unter großen Opfern seinen Sessel verließ, an den seine - wirklichen, eingebildeten oder vorgetäuschten - Schmerzen ihn festgenagelt hatten. Firmin, ein versauerter Name, das war dieser schauerliche Mief einer bescheidenen und luftdicht verschlossenen Wohnung, wo zweifelsohne nicht allzu sauber gewaschene Leute lebten; einer von ihnen hatte mit jenem chronischen Leiden zu tun, das ihnen - trotz ihrer Kraft, die man in ihrer Bekanntschaft für herkulisch hält - wie dem großen Hund, der Kohlendioxyd einatmet, den Erstickungstod bringt, und die andere hatte einen Draht zur Elektrizität, einem Fluidum, dessen Geschmack zwangsläufig stechend ist, nicht nur des Bichromats wegen, sondern weil eine der am leichtesten zu spürenden Wirkungen des elektrischen Stroms darin besteht, auf der Haut ein ziemlich unangenehmes Kribbelgefühl hervorzurufen, das ich für meinen Teil nie ausstehen konnte. Eugène und Gabrielle Firmin, Avenue de Chatillon, Montrouge, das ist der Haushalt ohne Kind und Dienstmagd, ein billiges Diptychon, das diesen zeitgenössischen Archetyp von Mann und Frau auf die Größenordnung von Personen einer Vorstadtbühne erniedrigt, deren Verbindung, welcher notwendig die Entbindung folgt (wenn nach der Krankheit der Tod kommt), den beständigsten und bescheidensten Fall der menschlichen Tragödie darstellt.

Montrouge - mit dem grobschlächtigen Vorstadtkolorit, im beunruhigenden Licht des Kalkofens in einer Winternacht - ist die erste Kulisse dieses Dramas, dessen letzter Akt in Sainte-Perine spielt, einem Altersheim, das in einem gutgelüfteten Arrondissement liegt, inmitten weiter und stiller Gärten. In Sainte-Perine wie in Montrouge, so verschieden die Orte sein mögen, existiert dasselbe geizig verschlossene Zimmer, das dennoch das einzige Laboratorium ist, wo alles geschieht, als ob die Krankheit des Alters - ein wirkliches chronisches Leiden in dem Sinne, daß der unaufhaltsame Verschleiß der Kräfte ganz und gar eine Zeit-Krankheit ist - als Theater nur einen Raum haben könnte, unwiderruflich begrenzt von vier Wänden, hautnaher Ausdruck jener Gesetze, denen man, komme, was wolle, nicht entrinnt.   - Michel Leiris, Streichungen. München 1982 (Die Spielregel Bd. 1, zuerst 1948)

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