ingernagel
Lestrade ging allein. Ohne Bush meinte er seine Gefühle
besser unter Kontrolle zu haben. Der Gestank war noch
immer ekelerregend, doch das gleichbleibende Licht der Laterne gab dem Leichnam
ein weniger abstoßendes und substanzloses Aussehen. Diesmal ging Lestrade mit
voller Konzentration und mit seiner ganzen Routine an die Arbeit. Der Leichnam
war männlich. Alter - nicht sicher. Er schätzte den Mann auf etwa vierzig. Die
Haut hatte die Färbung alten Pergaments, doch an einigen Stellen waren die Schädelknochen
zu sehen, von schmutzig-bläßlichem Weiß. Ein Augapfel, oder was davon übrig
war, hing an ein paar Muskelfasern auf die Wange hinab. Das andere Auge, blicklos
und erloschen, starrte steil nach oben. Die Kleidung, grau und verschmutzt,
war möglicherweise die eines Seemannes - oder eines
Landarbeiters. Der Staub des Sandsteins hatte sie grau überpudert, und über
Brust und Arme, wo Regenwasser eingesickert war, zogen sich Rinnsale. Die Knochen
traten vor. Abermals erregte das Haar Lestrades Aufmerksamkeit — verfilzt, lang
und grau — doch, höchst sonderbar, es stand aufrecht. Er kniete nieder und leuchtete
mit der Laterne den Boden ab. Gamaschen. Der Mann war Landarbeiter gewesen.
Was er als nächstes sah, brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Die Hände. Rauh,
zerschunden, fast ohne Fleisch, jedoch die Fingernägel waren lang — jeder war
etwa drei oder vier Zoll lang, schwarz, gekrümmt und spitz zulaufend. Kein Arbeiter
ließ seine Nägel so lang wachsen — er hatte weder die Muße noch die Zeit dazu.
Er hatte Fotografien der Kaiserin gesehen und sogar ein paar der Chinesen
in London hatten solche Nägel. Doch im nächsten Augenblick ließ er den Gedanken
fallen. Worin sollte der Zusammenhang bestehen? Opium? Geheimgesellschaften?
Er ermahnte sich, alle Möglichkeiten offenzuhalten und sich nicht festzulegen.
Schließlich passierte es nicht jeden Tag, daß in einem wunderschönen Tal eines
englischen Badeortes ein gräßlicher Leichnam auftauchte.
- M. J. Trow, Lestrade und die Struwwelpeter-Morde. Reinbek bei Hamburg
1990 (zuerst 1985)
Fingernagel (2)
Man lasse seine Nägel fünfzehn Tage lang wachsen. O! wie süß es ist, ein
Kind, dessen Oberlippe noch nichts bedeckt, brutal aus seinem Bett zu reißen
und die Augen, weit geöffnet, so zu tun, als lege man ihm sanft die Hand auf
die Stirn, um seine schönen Haare nach hinten zu streichen! Dann, plötzlich,
im Augenblick, da es am wenigsten darauf gefaßt ist, die Nägel tief in seine
weiche Brust zu schlagen, doch so, daß es nicht stirbt; denn wenn es stürbe,
könnte man es später nicht leiden sehen. Dann, die Wunden ausleckend, trinke
man sein Blut; und während dieser Zeit, die so lange
dauern müßte wie die Ewigkeit, weint das Kind. Nichts ist so gut wie dieses
noch ganz warme Blut, das ihm auf die angegebene Weise entzogen wird, es sei
denn seine Tränen, bitter wie Salz. Mensch, hast du nie dein Blut gekostet,
als du dich einmal versehentlich in den Finger schnittest? Wie gut, nicht wahr;
denn es schmeckt nach nichts. Überdies, erinnerst du dich nicht, eines Tages
bei deinen grausigen Grübeleien die hohle Hand auf dein kränkliches Antlitz
gelegt zu haben, das feucht war von dem, was aus den Augen tropfte; die gleiche
Hand dann unwiderstehlich an den Mund geführt zu haben, der in langen Zügen
die Tränen aus dieser Schale trank, die zitterte wie
die Zähne eines Schülers, der seinen geborenen Unterdrücker mit schiefem Blick
betrachtet? Wie gut, nicht wahr; denn sie schmecken nach Essig. - (
mal
)
Fingernagel (3)
Fingernagel (4)
Fingernagel (5) Wer
glaubt, Fingernägel wachsen kerzengerade, täuscht sich. Indianische Asketen,
die Prostituierten bei den Berbern und die Rekordhalter im Fingernagelwachsenlassen
haben im Lauf der Jahrhunderte bewiesen, dass Fingernägel parabeiförmig nach
oben wachsen, sie biegen sich nach innen, packen den Körper mit ihren Krallen.
Manchmal winden sie sich auch um den Unterarm und umschlingen ihn wie eine versteinerte
Kletterpflanze. Aus meinen Fingern wächst eine zaghafte Larve, eine angedeutete
Muschel. Eines Tages werde ich in einem Schneckenhaus aus Fingernagel wohnen.
- Tiziano Scarpa, Körper. Berlin 2005
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