ingernägel
kauen Wie üblich konnte er sich die wirklich bedrängenden
Fragen nicht beantworten. Nervös riß er sich den Daumenfingernagel herunter
und zerbiß ihn. Die abgebissenen Teile verschluckte er zur Hälfte, die andere
Hälfte spuckte er in sein Zimmer. O Gott, was war jetzt wieder geschehen. Die
Scham, der Zorn, die Reue, alles floß in seinem Körper umher und besetzte die
leeren Stellen. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, weitere Fingernägel
herunterzureißen. Er ballte beide Hände zu Fausten und steckte sie in die Hosentaschen:
so wie es ihm vor zwanzig Jahren seine Mutter empfohlen hatte, als er am Wohnzimmertisch
saß und versuchte, Schulaufgaben zu machen. Die Schule konnte er überhaupt nur
dann hinnehmen, wenn er sich gleichzeitig wenigstens die Fingernägel abbeißen
durfte. Unter dem Tisch stürzten die Finger beider Hände mit nervöser Dringlichkeit
aufeinander los und rissen alles weg, was über die Fingerkuppen hinaus zu spüren
war, während er über dem Tisch versuchte, konzentriert Zeile für Zeile aus seinem
Englischbuch zu lesen. Und die Mutter erschien in einem groß geblümten Kaufhof-Kleid
und sah seinem Gesicht an, wie vergeblich alles war. Eigentlich spielte er nur
einen Schüler, und er wollte doch so gern ein richtiger Schüler sein! Ein kleines,
schmutziges Unglück saß eben am Tisch und schmutzte weiter. Abschaffel sah aus
seinem Fenster und stellte fest, ob seine Mutter nicht heimlich das Dorf Sattlach
betreten hatte und ihn suchte, so wie sie damals ohne Vorwarnung jederzeit das
Wohnzimmer betreten konnte. Manchmal erschien auch noch die Schwester der Mutter
am Nachmittag und trank Kaffee und aß Pflaumenkuchen und erkundigte sich nach
seinen Leistungen in der Schule. Und diese Schwester empörte sich jedesmal über
Abschaffeis abgebissene Fingernägel. Schon wenn sie das Zimmer betrat, rief
sie, noch in der Tür stehend: Der Junge, was er wieder macht! Laß das! Und sie
kam an den Tisch heran und hatte das Recht, sich seine abgebissenen Fingernägel
einzeln zeigen zu lassen und sich noch einmal zu empören. Und eines Tages kam
sie auf die Idee, ihm für jeden nachgewachsenen Fingernagel zwei Mark zu geben.
Das wäre vielleicht schön gewesen (zehn nachgewachsene Fingernägel hätten zwanzig
Mark ergeben: guter Gott, ein halbes Vermögen, fast nicht vorstellbar, das Glück
fast, mindestens die halbe Ewigkeit: damals, 1953 oder 1954), wenn nicht bereits
die Mutter ein anderes Belohnungssystem auf ihn angesetzt hätte: Sie zahlte
für richtig gemachte Schulaufgaben jeden Tag fünfzig Pfennig. Ein Fingernagel
brauchte, um ordentlich nachgewachsen zu sein, zehn bis zwölf Tage. So lange
mußte er mindestens warten, um wenigstens an ein Zwei-Mark-Stück der Tante heranzukommen.
Andererseits konnte er die Schulaufgaben nicht machen, wenn er nicht an den
Fingernägeln herumnagen durfte. Was hätte er tun sollen? Zwei Belohnungen kämpften
sich in seinem Körper tot, und er mußte zuschauen und am Ende fast leer ausgehen.
Denn die zwei Mark der Tante für einen ausgewachsenen Fingernagel waren in Wahrheit
nicht erreichbar. Es war keine Belohnung, sondern eine Tortur, die gar nicht
galt. Es war verrückt, aber es war das Leben. -
(absch)
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