estspiel
Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das
Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens: aber weder für den
Christen, der in das Leiden eine ganze geheime Heils-Maschinerie
hineininterpretiert hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten,
der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf Leiden-Macher
auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches sinnloses Leiden.
Damit das verborgene, unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt
geschafft und ehrlich negiert werden konnte, war man damals beinahe dazu
genötigt, Götter zu erfinden
und Zwischenwesen aller Hohe und Tiefe, kurz etwas, das auch im
Verborgenen schweift, das auch im Dunkeln sieht und das sich nicht
leicht ein interessantes schmerzhaftes Schauspiel entgehen laßt. Mit
Hilfe solcher Erfindungen nämlich verstand sich damals das Leben auf das
Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu
rechtfertigen, sein „Übel" zu rechtfertigen; jetzt bedürfte es
vielleicht dazu anderer Hilfs-Erfindungen (zum Beispiel Leben als
Rätsel, Leben als Erkenntnisproblem). „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an
dessen Anblick ein Gott sich erbaut": so klang die vorzeitliche Logik
des Gefühls — und wirklich, war es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde grausamer
Schauspiele gedacht — o wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst
noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein! man mag hierüber etwa
mit Kalvin und Luther zu Rate gehn. Gewiß ist jedenfalls, daß noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wußten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen glaubt ihr denn, daß Homer
seine Gtitter auf die Schicksale der Menschen niederbücken ließ?
Welchen letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und ähnliche
tragische Furchtbarkeiten? Man kann gar nicht daran zweifeln: sie waren
al» Festspiele für die Götter gemeint: und, insofern der Dichter darin
mehr als die übrigen Menschen „göttlich" geartet ist, wohl auch als Festspiele für die Dichter . . .
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral
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