erndeutung  Kelsen wollte einen Freund, der in der Nähe einlogiert war, mit Freud zusammenbringen, denn dieser Mann träumte auffällig und penetrant vom Tod seiner Kinder, wobei ihm unbehaglich war, daß er träumend davon unbewegt blieb. Insofern waren diese Träume unsittlich. Gerade der letzte in der vergangenen Nacht war ein schauriges Stück: Jemand hatte dem Mann Nachricht vom Tod seiner Kinder gegeben, woraufhin er mit der größten Seelenruhe erwiderte: »Gut, stelle sie in den Eisschrank.«

Freud mag dieser Träumer etwas zu unzensiert geträumt haben, um es auf eine weitere Einläßlichkeit ankommen zu lassen. So sagte er Kelsen, man könne von ihm nicht erwarten, den Traum eines Fremden aus der Distanz zu deuten, doch könne er die Vermutung nicht für sich behalten, daß dieser Träumer unglücklich verheiratet sei und sich die Kinder im Traum erfolgreich aus dem Wege wünsche, um zu einer anderen Verbindung zu kommen.

Hans Kelsen hat dem ›offiziösen‹ Biographen Freuds, Ernest Jones, mitgeteilt, jener Freund habe tatsächlich ein Verhältnis mit seiner Sekretärin gehabt, die dazu noch zur Zeit des ferngedeuteten Traumes am Urlaubsort der Familie wohnte.

Freud verstieß mit dieser Deutungsverweigerung durch Ferndeutung gegen alle Regeln der Schule. Erstaunlicher noch als diese bei Schulhäuptern nicht ungewöhnliche Selbstdispensation ist die Schwäche der Gegenwehr gegen die Frivolität des Träumers, denn diese Verschlüsselung war keine. Sie hat alle Merkmale der allzu schönen und dann auch allzu leichten Erfindungen, mit denen ›Träumer‹ sich profilieren, deutlicher noch: sich für den Meister präparieren. Im Jahr 1921 war bereits jede Tischrunde in gehobener intellektueller Stimmung imstande, diese Art von Träumen zu ›deuten‹. Und wer wunderte sich schon, wie Arthur Schnitzler, jetzt Träume à la mode de Freud zu haben? - (blum)

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