enstersturz  «Wo ist er hin?» fragte der Polizist.
«Da läuft er», verkündete eine Stimme von oben.

Sowohl der Polizist als auch der Manager hörten zwar die Stimme, aber keiner von ihnen blickte hinauf. Sie nahmen einen dunklen Schatten wahr, der flink um die Ecke in die 132nd Street einbog, und machten sich sofort gemeinsam an die Verfolgung.

Die Stimme gehörte einem Mann, der in einem erleuchteten Fenster der dritten Etage stand. Es war das einzige erleuchtete Fenster in dem Block fünf- und sechsstöckiger Häuser.

Hinter der Silhouette des Mannes erklangen gedämpft die Töne einer Jam Session aus dem dahinterliegenden Zimmer. Die heißen Töne eines Tenorsaxophons hielten mit den hallenden Schritten auf dem Pflaster des Gehsteigs den Takt, und tiefe Akkorde auf dem Flügel bildeten das Echo zu dem leichten, trockenen Dröhnen einer Kesselpauke.

Die Silhouette im Fenster wurde kürzer, als der Mann sich weit und immer weiter hinauslehnte, um die Jagd zu beobachten. Was zuerst als eine große, dünne Gestalt erschienen war, wurde langsam zu einem breiten, untersetzten Zwerg, und der Mann beugte sich immer noch weiter hinaus, Als der Polizist und der Filialleiter um die Ecke bogen, reckte er sich so weit vor, daß seine Gestalt kaum noch fußhoch erschien. Bis zum Gürtel lehnte er sich weit aus dem Fenster heraus.

Langsam schoben sich jetzt auch seine Hüften über das Fenstersims. Sein Gesäß erhob sich langsam vor dem hellen Hintergrund wie eine anrollende Welle, versank dann unter der Fensterkante, während seine Beine und Füße sich ebenso langsam nach oben streckten. Für einen langen Augenblick erschienen vor dem gelbleuchtenden Rechteck die Umrisse von zwei nach oben gerichteten Füßen auf zwei Beinen. Dann versanken sie langsam aus dem Blickfeld, wie ein Körper, der kopfüber ins Wasser taucht.

Der Mann fiel gemächlich, den Körper steif ausgestreckt. Dabei drehte er sich in der Luft um sich selbst.

Er fiel an dem darunter liegenden Fenster vorbei, das in schwarzen Buchstaben die Botschaft trug:

Richtet Euch auf und fliegt gerade!
Salbt Eure Liebesäpfel
mit Vater Cupidos Original Adamsbalsam!
Ein Heilmittel für jeden Liebeskummer!

 - Aus: Chester Himes, Fenstersturz in Harlem. Reinbek bei Hamburg (rororo thriller 2348, zuerst 1959)

Fenstersturz  (2)  Es kam ein menschlicher Körper, nur mit einem Hemd bekleidet, durch den Luftraum herabgeschwebt und prallte aufs Straßenpflaster. Es war der Reisende, der sich aus dem Fenster gestürzt hatte.

Man hat keinerlei Papier bei ihm gefunden, das seine Identität hätte bestätigen können. Er hatte in seinen Taschen zwei Portemonnaies mit 395 frs. in Gold und 282 frs. in Silber, zusammen also 677 frs.

Ein Mann im Hemd, der keinerlei Ausweispapier bei sich hat, aber zwei Portemonnaies in seinen Taschen trägt!...  - Le Figaro v. 11. August 1979, nach (sot)

Fenstersturz  (3)  

Fenstersturz  (4)

Fenstersturz  (5)  

Fenstersturz  (6)  Seine Lippen waren weiß vor Zorn. Die Zeitung sprang in seine rechte Hand und links, rechts, links, rechts schlug er dem riesigen Mann ins Gesicht. Bei aller Erregung studierte der Professor sein Geschöpf noch scharf und intelligent, und es überraschte ihn der unsägliche Schmerz, der über das Gesicht des Ungeheuers gebreitet war. Lag das alleine an der Zeitung, die über dem Gesicht des riesigen Mannes flatterte wie eine Fledermaus?

Der riesige Mann lag noch auf seinem Bett, doch mit der linken Hand hatte er bereits den Kopf des Professors umfaßt. Weil er eben im Test versagt und darum auch nicht trainiert worden war, wußte er nicht, daß sich zu seinem Zweck die Kehle ganz einfach zudrehen ließ. So griff er zu, erwischte die Schläfe, den Hinterkopf, seine Finger umspannten wie eine Stahlklammer des Professors Kopf. Die Augen des Professors quollen aus dem Kopf heraus, als drücke man aus einer Ketchuptube den letzten Saft heraus.

Die Brille fiel auf den Boden hinab, der Professor ächzte, der riesige Mann schwang sich vom Bett herab. Dem riesigen Mann ging es sowohl im Kopf als auch im Unterleib so gut wie selten zuvor in des Professors Gegenwart. Ihm kamen der Park und der schreiende Mund in den Sinn, und er wunderte sich halbwegs, warum der Professor nicht schrie wie eine gute Frau. Nun hob der riesige Mann den Professor mit den Armen hoch, krümmte den winzigen Leib zusammen wie eine Puppe, der man ein mechanisches Geräusch entlocken will, hob das Bündel hoch über seinen Kopf, beugte es weit über seinen Rücken zurück, so weit, daß er fast im Eifer den Halt verlor, und warf diesen kleinen, boshaften Leib mit gewaltigem Schwung durch das zersplitternde Fenster in die Wolken hinein. Dann lauschte der riesige Mann zum Fenster hinaus, wie ein Kind in einen Brunnenschacht horcht, in den es einen Kieselstein zur Ergründung der Tiefe wirft, und wenig später klatschte der Körper des Professors mit den ersten fetten Regentropfen fünf Stockwerke tiefer auf dem Plaster auf.  - Gerd Maximovič, Frankenstein. In: Phantastische Welten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984 (Phantastische Bibliothek 137)

Fenstersturz  (7)  Winsome erwachte aus einem Traum, in dessen Verlauf er sich aus dem Fenster gestürzt hatte, und fragte sich, warum er nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen war. Von Rachels Schlafzimmer aus ging es sieben Etagen hinunter in einen Hof, der nur unbedeutenden Zwecken diente: den Betrunkenen als stilles Örtchen, Bierdosen und Kehricht als Abfallhaufen, den Katzen als nächtliche Vergnügungsstätte. Wie könnte sein Kadaver das glorifizieren!

Er ging ans Fenster, öffnete es, stellte sich breitbeinig davor, hörte hinaus. Kichernde Mädchen, die einander irgendwo am Broad-way jagten, ein Musiker, der auf seiner Posaune übte, Rock&Roll gegenüber:

Kleine teenage-Göttin,
Bitte sag nicht nein,
Komm in den Park mit mir
Heut abend so um neun,
Ich mocht so gerne dir
Dein teenage-Romeo sein.

Den Entenschwanzfrisuren und den knappen Lederjacken der Straße gewidmet. Das verursachte bei den Polizisten Magengeschwüre und gab den Leuten vom Jugendamt lohnende Arbeit.

Warum nicht hinunter? Die Hitze wird drückender. Auf dem vergammelten Grund des Hinterhofs gäbe es keinen August mehr.

»Hört, Freunde«, sagte Winsome, »auf unsere ganze Bande paßt ein Wort, und das ist ›kaputt‹. Manche von uns laufen mit offenem Hosenlatz herum, und andere bleiben ihrem Partner treu, bis zu den Wechseljahren oder dem Großen Klimakterium. Aber geil oder monogam, auf der einen Seite der Nacht oder auf der anderen, auf der Straße oder nicht, bei uns gibt es keinen, auf den man deuten und den man gut nennen könnte.

Der irisch-armenische Jude Fergus Mixolydian nimmt Geld von einer Stiftung, die nach einem Mann benannt ist, der Millionen dafür ausgab, zu beweisen, daß die Welt von dreizehn Rabbis regiert wird. Fergus sieht nichts Schlimmes darin.

Esther Harvitz bezahlt dafür, daß der Körper, mit dem sie geboren wurde, verändert wird und verknallt sich dann in den Mann, der sie verstümmelt hat. Auch sie sieht darin nichts Schlimmes.

Raoul, der Fernsehautor, könnte Stücke schreiben, die kompliziert genug sind, die Bedenken der Verantwortlichen zu überwinden, und den Zuschauern immer noch sagen, was mit ihnen verkehrt ist und was sie eigentlich sehen. Aber er begnügt sich mit Wildwest-und Kriminalfilmen.

Slab, der Maler, besitzt technisches Geschick und, wenn man so will, »Seele«. Aber er hat sich dem Käsekuchen verschrieben.

Melvin, der Folk-Singer, hat kein Talent. Ironischerweise trägt er mehr bei zur Sozialkritik als der ganze Rest der Bande. Der Erfolg ist gleich Null.

Mafia Winsome ist geschickt genug, sich eine eigene Welt zu schaffen, aber zu blöde, in Ihr zu leben. Da sie sieht, daß die Wirklichkeit mit ihren Träumen nicht übereinstimmt, verwendet sie alle ihre sexuelle und emotionale Energie darauf, Wirklichkeit und Traumwelt in Einklang zu bringen, doch gelingt es ihr nicht.

Und so weiter. Jeder, der weiterhin in einer Subkultur lebt, die so offensichtlich kaputt ist, hat kein Recht, sich gut zu nennen. Die einzig gute Sache, die man tun kann, ist die, die ich jetzt tun werde, nämlich aus diesem Fenster zu springen.«

Mit diesen Worten zog Winsome sich die Krawatte gerade und traf Anstalten, sich aus dem Fenster zu stürzen.

»Ich sage«, sagte Pig Bodine, der draußen in der Küche zugehört hatte, »weißt du nicht, daß das Leben dein kostbarster Besitz ist?«

»Ich habe das schon einmal gehört«, sagte Winsome und sprang. Er hatte nicht an die Feuertreppe einen Meter unter dem Fenster gedacht. Bis er sich wieder hochgerafft und ein Bein hinübergeschwungen hatte, war Pig aus dem Fenster. Pig bekam Winsomes Gürtel gerade in dem Augenblick zu fassen, als er zum zweitenmal losspringen wollte.

»Na, na«, sagte Pig. Ein Betrunkener, der unten im Hof pinkelte, schaute hoch und begann zu schreien, damit alle Welt dem Selbstmord zusehen könnte. Lichter gingen an, Fenster öffneten sich, und bald hatten Pig und Winsome ihr Publikum. Winsome hing da, zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, schaute ruhig zu dem Betrunkenen hinunter und beschimpfte ihn wüst.

»Wie wäre es damit, daß du mich endlich fallen laßt«, sagte Winsome nach einer Weile. »Werden deine Arme nicht langsam müde?«

Pig gab zu, es wäre so.   - (v)

Fenstersturz  (8)  Ein Mann kam wegen eines Vergehens ins Gefängnis. Als er dort eingesperrt saß, erhielt er Nachricht von zu Hause. Ob der Direktor selbst, oder ob der Geistliehe den Mut hatte, die Neuigkeit auszusprechen, daran erinnere ich mich nicht; jedenfalls wurden die Worte von einer menschlichen Zunge ausgesprochen und erreichten das Ohr des Unglücklichen, um in sein Herz einzudringen und ihre Wirkung zu tun. Die Frau des Gefangenen hatte sich einen Liebhaber genommen; und eines Tages, als sie allein sein wollten, hatten sie das Kind fortgeschafft, das Kind des Mannes. Das Kind war zum Fenster hinaus gegangen und lebte nicht mehr! Das war alles!

Als ich diese Geschichte hörte, mußte ich an Klein Eyolf denken, der zum Krüppel wurde, weil die Gatten allein sein wollten.

Und ich erinnerte mich in diesem Zusammenhang an einen Fall, der sich 1893 im Ausland zutrug. Da „fiel" ein Kind unter ähnlichen Umständen zum Fenster hinaus. Ob es hinaus „ging", weiß ich nicht, aber in solchen Fällen pflegt die Rhetorik einen Schleier über die Trauer zu ziehen.

Das ließ mich an eine weit zurückliegende Szene denken, die ich damals nicht verstand. Dem Kind war die Küche zum Aufenthaltsort angewiesen. Die Köchin liebte Kinder nicht - - - Ich kam hinaus, um die Kleine zu suchen, aber sie war nicht in der Küche. Sie stand im Treppenhaus, an einem offenen Fenster, vier Treppen hoch, lehnte sich über das Geländer - ich glaube, ein Dämon hatte das Fenster geöffnet!   - (blau)

Fenstersturz  (9)

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Fenster Sturz
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