enster,
offenes
Ich kannte mal ein Schulkind, das sich vor geöffneten Fenstern ängstigte. Damals
war ich selber noch klein und kam nicht auf den Gedanken, das Kind nach dem
Grund seiner Furcht zu fragen. Und leider erinnere ich mich auch nicht, wie
das Kind hieß, wie es aussah und welche Meinungen es sonst hatte. Heute fällt
es mir oft ein, wenn ich offene Fenster sehe. Vermutlich war es die schwarze
Tiefe des Raums, vor der das Kind ein Bangen empfand. Im Zentrum der hier vorgestellten
Postkarte sehen wir das düstere Rechteck, das gewiß etwas furchtsam Beeindruckendes
hat, zumindest für ein einbildungsstarkes Auge. Vielleicht war der Grund der
Furcht nur das optische Rätsel der von außen wahrgenommenen Schwärze, die ja
verschwindet, sobald wir uns im Inneren eines Zimmers befinden.
Aber die Postkarte zeigt uns nicht nur diese eine, sondern gleich
mehrere Arten, wie sich uns Fenster präsentieren können. Und je öfter ich die
Postkarte anschaue, desto mehr bedaure ich, damals nicht mit dem Schulkind über
seine Ängstlichkeit gesprochen zu haben. Denn dann hätte ich auch eingestehen
können, daß ich mich damals nicht vor offenen, sondern vor vollständig geschlossenen
Fenstern (wie wir links unten in der Ecke eines sehen) gefürchtet habe. Leider
ist es für einen solchen Austausch für immer zu spät. In Erinnerung bleibt nur
das Erstaunen über die wundersame Tätigkeit der Furcht, die uns mit jedem beliebigen
Bild einschüchtern kann, ohne uns je die Chance zu lassen, wenigstens nachträglich
zu rekonstruieren, warum wir aus diesem und jenem harmlosen Anblick ein inneres
Schreckbild haben machen müssen. - Wilhelm Genazino, FR vom 30.
Oktober 1993
- Juan Gris
Fenster,
offenes
(3) Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem
Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube.
Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine
Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen
Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der
anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt
unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße.
Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische
rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft.
Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine
Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist
Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein. - Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge. Frankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)
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