ehlen
Der nebenan wurde bald weggeschickt. An seinem Platz lag abends - ich
hatte Schlafmittel bekommen, wachte aber auf zum Abendbrot: es gab Dörrgemüse
und große, schöne Graupen - abends also lag nebenan einer, der sah grimmig aus.
Offenbar eine autokratische Natur, das sah man an seinem befehlshaberischen
Gesichte: ein Großknecht vielleicht, einer, der über mehrere geherrscht hatte,
und wenn es auch nur mehrere Schweine, Kühe, Schafe, Esel oder Hühner gewesen
waren. Jetzt fehlte ihm nur eines: Arme...
Jedem von uns fehlte etwas. Dem einen ein Bein, dem anderen ein Auge oder
zwei, dem dritten der Bauch, dem vierten das Schienbein, dem fünften das Gedächtnis.
- George Grosz, Ein kleines Ja und ein
großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst
1955
Fehlen (2) Sie kannten keine Ausschweifungen,
oder es hatte ihnen einzeln nichts gesagt, sie kannten statt dessen nur Besäufnisse,
- sie kannten keine Sinnlichkeit - das Entzücken bloßer
Haut, das Entzücken einer bloßgelegten Achselhöhle,
aus dem dünnes Haar sprießt, und sie waren niemals betroffen gewesen durch die
heftige Schönheit eines bloßen Knies und eines weichen Kniegelenks - sie kannten
statt dessen blödes Schnell-Geficke in einem Hotel-Zimmer, „kau mir einen ab",
sagte der Typ, wobei es ihm gar nicht darum ging, es ging um den Ausgleich von
Niederlagen, aber nicht um das Empfinden einer weichen Mundöffnung, die sich
um einen Penis schlie ßt - ich habe den Tonfall beim Erzählen gehört, er brachte
anschließend das Gespräch auf soziale Veränderungen. - (
rom
)
Fehlen (3) Der arme Siller
als der Schwächlichste unter uns, sage ich. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß ein solcher Mensch, ein solcher ordnungsliebender Mensch, sich
umbringen, Selbstmord begehen könnte. Ein solcher,
in welchem wohl immerfort Ursache, aber doch überhaupt kein Wille zum Selbstmord
gewesen ist. Wie doch alle Menschen, geehrter Herr, Ursache, Grund haben, ihre
Existenz abzutöten, aber doch nicht den Willen dazu, und andere gewillt sind
und nicht die Kraft haben, und wieder andere den Willen
und die Kraft dazu, aber keine Möglichkeit.
In den kompliziertesten wie in den einfachsten Menschen ist aber doch jedenfalls
mindestens einmal pro Tag alles ein Grund. - Thomas Bernhard, Watten.
Ein Nachlaß. In: T.B., Die Erzählungen. Frankfurt am
Main 1979