Faulfieber  Nun, es war einmal ein Mann, der in unauffälligem Glück zufrieden dahin lebte. Er war umgeben von  der zärtlichen  Gleichgültigkeit der Welt, die er zu genießen und zu benützen verstand. Doch eines Tages geschah etwas Seltsames. Als erstes spürte der Mann eine trockene, brennende Hitze in seinem ganzen Körper, die bei Berührung der Haut ein ganz eigenartiges, stechendes und prickelndes Gefühl zurückließ. Sein Puls war weich, schnell und veränderlich, doch das störte ihn kaum. Mehr belastete ihn die Schwäche und die matte heisere Stimme, die es ihm unmöglich machte, seine Wünsche zu äußern. Bald verfiel der Mann auch einem sanften unaufhörlichen Irrereden. Dann geschah es. Von einem Moment auf den anderen kamen die Zeichen der Fäulnis zum Vorschein. Alle Ausleerungen, also Schweiß, Urin, Stuhlgang, der Atem waren von unerträglichem, aashaften, faulen Geruch gekennzeichnet. Die Oberfläche der Mund-und Nasenhöhle, die innere Seite der Augenlider waren mit einem bleifarbenen, stinkenden Schleim überzogen, die Augen selbst von trübem Aussehen. Oft stieß es ihm faul auf, und er empfand eine unerträgliche Abneigung gegen alle Fleischspeisen, hatte aber auf der anderen Seite eine unstillbare Sehnsucht nach säuerlichen Dingen. Auf seiner Haut erschienen bleifarbene, dunkelrote, blaue und schwärzliche Flecken, Striemen und Blutblasen, aus der Nase, aus dem Mund floß dünnes, aufgelöstes Blut und zeitweilig schwitzte der Mann es auch aus den Poren der Haut. Zu diesen Erscheinungen gesellte sich ein erschöpfender, dünner, jauchiger Stuhlgang, der Unterleib war trommelartig aufgetrieben und der Urin dick, trüb und braun, wie der Harn der Rinder. Nicht zuletzt wurde der Mann von kaltem, klebrig stinkendem Schweiß geplagt.

Tagelang lag der Mann umgeben von stinkender, ekelerregender Fäulnis. Das Zimmer war voll mit Fliegen und Ungeziefer. Ärzte und Bader kamen, um ihn zu sehen, doch als sie den Geruch spürten und die Fäulnis sahen, flüchteten sie. Schließlich waren sie Menschen, und das, was sie zu sehen bekamen, war unmenschlich und grauenhaft. Einsam faulte der Mann dahin. Die Fäulnis vermehrte sich immer mehr, drang durch alle Ritzen und Fugen, verließ das Zimmer, das Haus und überschwemmte die Stadt. Nichts konnte sie aufhalten, alles wurde von ihr erfaßt, ergriffen und befallen. Bald war der halbe Ort von ihr verseucht, dann der Rest, die nächste Stadt, das Land. Alles stank, surrte von Fliegen und Ungeziefer, doch was den noch übrigen Gesunden sehr seltsam erschien, keiner der Erkrankten starb, man konnte glauben, daß sogar der Tod die ekelerregende Seuche mied. Monate und Jahre vergingen, und bald war die ganze Welt von der Krankheit Fäulnis befallen. Vorerst hatte man die Kranken noch ins Spital geschafft, doch als die wenigen Krankenhäuser überfüllt waren und man mit Erstaunen bemerkte, daß nicht der Tod die zwingende Folge war, ließ man die Menschen zu Hause.

Die Menschheit erstarrte in Fäulnis und betrachtete viele ihrer Dinge als nebensächlich. Trotz allem Ekel, den man beim Ausbruch der Fäulnis empfunden hatte, gewöhnte man sich schnell an sie. Bald war alles beim alten, es war wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die Welt stank, voll mit Fliegen war und keiner mehr den Tod zu fürchten hatte, denn dieser war wie durch ein Wunder verbannt.   - Helmut Eisendle, Obduktion. In: H.E., Die Gaunersprache der Intellektuellen. Frankfurt am Main 1986

 

Faulen Fieber

 

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