arbensehen »Sie - Sie lachen mich doch nicht aus?« rief sie. »Ich habe keine eigenen Kinder. Ich war nie verheiratet. Die Leute lachen mich manchmal ihretwegen aus, weil - weil -«

»Weil sie Barbaren sind«, ergänzte ich. »Darüber muß man sich nicht ärgern. Die Sorte Leute lachen über alles, was nicht ihr eigenes feistes Leben angeht.«

»Ich weiß es nicht. Wie sollte ich auch? Ich lasse mich nur nicht gern ihretwegen auslachen. Es tut weh; und wenn man nicht sehen kann ... Ich möchte nicht gern töricht erscheinen« - ihr Kinn zitterte wie bei einem Kinde, als sie sprach - »aber wir Blinden haben nur eine Haut, glaube ich. Alle äußeren Dinge treffen uns direkt in die Seele. Mit Ihnen ist das ganz anders. Sie haben so einen guten Schutz in Ihren Augen. Sie können sich vorsehen, bevor Sie jemand wirklich in Ihrer Seele verletzen kann. Die Menschen vergessen das bei uns.«

Ich schwieg und überdachte diesen unerschöpflichen Gegenstand - die nicht nur ererbte, sondern auch vorsorglich angedrillte Brutalität der christlichen Völker, mit der verglichen das verachtete Heidentum eines Negers von der Westküste lauter und zartfühlend ist. Dieser Gedanke führte mich tief in mein Innerstes hinein.

»Tun Sie das nicht«, sagte sie plötzlich und schlug die Hände vors Gesicht.
»Was?«
Sie machte eine Gebärde mit der Hand. »Das! Es ist - ganz purpurn und schwarz. Nicht! Diese Farbe tut weh.«
»Herrgott, wieso wissen Sie etwas von Farben?« rief ich aus, denn das war mir wirklich eine Offenbarung.
»Farben als Farben?« fragte sie.
»Nein, diese Farben, die Sie eben sahen.«
Sie lachte: »Das wissen Sie ebensogut wie ich, sonst hätten Sie nicht diese Frage gestellt. Die gibt es gar nicht auf der Welt. Sie waren in Ihnen - als Sie so böse wurden.«
»Meinen Sie einen mattpurpurnen Fleck, wie Portwein mit Tinte gemischt?«
»Ich habe nie Tinte oder Portwein gesehen - aber die Farben sind nicht gemischt. Sie sind getrennt - ganz getrennt.«
»Meinen Sie schwarze Streifen und Kerben quer über den Purpur?«
Sie nickte: »Ja, wenn sie so sind« - sie bewegte ihren Finger im Zickzack - »aber sie ist mehr rot als purpurn, diese böse Farbe.«
»Und welches sind die Farben an der Spitze des - dessen, was Sie sehen?«
Sie beugte sich langsam vor und zeichnete auf die Decke die Umrisse des Eis.

»Ich sehe sie so«, sagte sie und zeigte mit einem Grashalm. »Weiß, Grün, Gelb, Rot, Purpur und, wenn jemand schlecht oder böse ist — wie Sie es jetzt eben waren -, Schwarz quer durch das Rot.«

»Wer erzählte Ihnen davon - zu Anfang?« fragte ich.

»Von den Farben? Niemand. Als ich klein war, pflegte ich nach den Farben von Tischdecken, Vorhängen und Teppichen zu fragen, wissen Sie, weil einige Farben mich schmerzten, andere mich glücklich machten. Man nannte sie mir. Und als ich älter wurde, begann ich die Menschen auf diese Weise zu sehen.« Wieder zeichnete sie den Umriß des Eis, wie es nur wenigen von uns zu sehen gegeben ist.

»Ganz von selbst?« wiederholte ich.
»Ganz von selbst. Es war ja niemand anderes da. Ich fand erst später heraus, daß andere Leute die Farben nicht sahen.«
Sie lehnte an einem Baumstamm, flocht und löste Grashalme, die sie gedankenlos gepflückt hatte. Die Kinder im Walde waren näher herangekommen. Aus dem Augenwinkel hinspähend, sah ich, daß sie wie Eichhörnchen miteinander spielten.
»Jetzt bin ich sicher, daß Sie mich nie auslachen werden«, fuhr sie nach langem Schweigen fort. »Auch sie nicht.«
»Um Gottes willen, nein!« rief ich, aus meinen Gedankengängen aufgerüttelt. »Ein Mann, der ein Kind auslacht - wenn das Kind nicht selbst mitlacht -, ist ein Ungläubiger.«
»Ich meinte das natürlich nicht so. Sie würden Kinder nie auslachen - aber ich dachte - ich dachte früher - daß Sie vielleicht über sie lachen könnten. Deswegen bitte ich Sie jetzt um Entschuldigung. Worüber lachen Sie jetzt?«
Ich hatte keinen Laut von mir gegeben, aber sie wußte.
»Daß Sie mich um Entschuldigung bitten! Wenn Sie Ihre Pflicht als Stütze des Staates und als Gutsbesitzerin hätten erfüllen wollen, hätten Sie mich wegen unbefugten Eindringens gerichtlich belangen müssen, als ich damals durch Ihre Wälder fuhrwerkte. Es war schändlich von mir, unentschuldbar.«

Sie sah mich - den Kopf an den Baumstamm gelehnt - lange an, diese Frau, die die Seele nackt sehen konnte. - Rudyard Kipling, "Sie", nach (ki)

Farbensehen (2)  Das Unterscheiden und, noch mehr, das Benennen von Farben ist mir seit je schwergefallen. Der ein bißchen mit seinem Wissen prunkende Goethe der Farbenlehre erzählt da von zwei Subjekten, in denen ich mich zum Teil wiedererkenne. Zum Beispiel verwechseln diese beiden »Rosenfarb, Blau und Violett durchaus«: nur durch kleine Schattierungen des Helleren, Dunkleren, Lebhafteren, Schwächeren scheinen sich solche Farben für sie voneinander abzusondern. Der eine bemerkt bei Schwarz etwas Bräunliches und bei Grau etwas Rötliches. Überhaupt empfinden die zwei die Abstufung von Hell und Dunkel sehr zart. - Sie sind wohl krank, aber Goethe betrachtet sie noch als Grenzfälle. Freilich: Wenn man die Unterhaltung mit ihnen dem Zufall überlasse und sie über vorliegende Gegenstände befrage, so gerate man in die größte Verwirrung und fürchte, wahnsinnig zu werden.  — Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1984 (zuerst 1980)
 
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