Fanatismus (2) Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Da sind also Leute, die sind so konzentriert auf eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt, in einem Moment.
Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten.
Stellen Sie sich vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen
und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf
der Stelle umfallen, Sie wären tot und würden wiedergeboren,
weil es einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler
versuchen doch auch über die Grenze des überhaupt Denkbaren und
Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir uns für
eine andere Welt öffnen. - Karlheinz Stockhausen, ca. 12. September 2001
Polyeuktes, da er eines Feiertages in den Tempel geht, Standbilder und Zierat umzuwerfen und entzweizuschlagen, ist kein so grauenvoller Fanatiker wie Diaz, indessen nicht weniger dumm. Die Meuchelmörder des Herzogs Franz Guise, des Prinzen Wilhelm von Oranien, des Königs Heinrich III., des Königs Heinrich IV. und allzu vieler anderer, waren Besessene wie Diaz und litten an der gleichen Krankheit.
Das scheußlichste Beispiel zum Fanatismus aber gaben die Bürger von Paris, da sie in der Nacht des heiligen Bartholomäus losliefen, ihre Mitbürger, welche niemals zur Messe gingen, totzuschlagen, totzustechen, aus den Fenstern zu stürzen und in Stücke zu hauen.
Es gibt Fanatiker mit kaltem Blut: jene Richter nämlich, die einen jeden zum Tode verurteilen, dessen einziges Verbrechen es ist, nicht zu denken wie sie. Und ebenjene Richter sind um so schuldiger, des Abscheus der menschlichen Gattung um so würdiger, als sie von keiner blinden Wut befallen sind gleich einem Clément, einem Châtel, einem Ravaillac, einem Damiens, weshalb sie vielleicht auf die Vernunft hören könnten.
Wenn einmal der Fanatismus ein Hirn zerfressen hat, so ist die Krankheit fast unheilbar. Ich habe Leute in Krämpfen gesehen, die von den Wundern des heiligen Paris redend sich ohne eigenes Zutun stufenweise erhitzen: ihre Augen flackerten, ihre Glieder zitterten, die Raserei verzerrte ihr Gesicht; sie würden jeden getötet haben, wer immer ihnen widersprochen hätte.
Gegen diese ansteckende Krankheit gibt es kein Heilmittel
als den philosophischen Geist, der, von einem Nächsten zum andern
immer weiter sich ausbreitend, schließlich die Sitten der Menschen
glättet und dem Rückfall in das Übel vorbeugt; denn kaum dringt
dies Übel heran, so heißt es fliehen
und warten, bis die Luft sich gereinigt
hat. Gesetze und Religion sind gegen
solche Seelenpest nicht genug; ja die Religion, weit entfernt,
eine heilbringende Nahrung zu sein, wandelt sich in den angesteckten
Hirnen zu Gift..-
Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, nach (
vol
)
- Léon Bloy, Auslegung der Gemeinplätze, nach (
enc
)
Fanatismus (5) „Meine reizende Dame, vernehmen Sie folgendes. Wenn die Genesung da parat läge, da, verstehen Sie wohl" — und er deutete schroff auf das Salzfaß — „da, in meiner unmittelbaren Nähe, und ich müßte, um ihrer teilhaftig zu werden, den Herrn Prinzipal (so nannte sein böser Witz den Schöpfer) um seine Intervention anflehen, müßte ihn bitten, mir zuliebe die Naturgesetze umzustoßen, das ehrwürdig-natürliche Walten von Ursache und Wirkung aufzuheben —: wahrhaftig, dann pfiffe ich auf sie, auf die mir gnädigerweise bewilligte Genesung! Und ich spräche zu ihm, dem Herrn Prinzipal: ,Bleiben Sie mir vom Halse mit Ihrer Wundertätigkeit; ich habe keine Verwendung dafür!'" Er skandierte die Worte und Silben. Seine Stimme schrillte im Zorn. Er war grausig anzusehen.
„Sie nähmen das Gnadengeschenk der Heilung nicht an? .. . Weshalb nicht?" fragte Julius ruhig.
„Weil das mich zwänge, an den zu glauben, der nicht existiert." Bei
diesen Worten schlug er mit der Faust auf den Tisch. -
André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (dtv 1106, zuerst 1914)
Fanatismus (6)
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