Fähigkeit, paranoische    Die visuelle Ausübung jener bisweilen als »paranoisch« bezeichneten Fähigkeit hat zu folgender Feststellung geführt: wenn ein und derselbe Fleck, auf einer Mauer oder anderswo, von zwei verschiedenen Individuen, die von unterschiedlichen Wünschen beherrscht werden, fast immer verschieden interpretiert wird, so folgt daraus keineswegs, daß der eine den anderen nicht leicht dahin bringen könnte, das von ihm darin Entdeckte ebenfalls wahrzunehmen. Es ist a priori nicht emzusehen, was diese erste Illusion hindern sollte, sich rund um die Welt auszubreiten. Dazu genügte, daß sie der beharrlichsten und auch der eindringlichsten Vision entspräche, und zwar in dem Sinne, daß sie imstande wäre, die größtmögliche Anzahl optischer Restbestände mit ins Spiel zu bripgen. Wenn man dieserhalb die Reaktionen des Durchschnittsmenschen auch nur ein wenig untersucht, so wird man feststellen, daß die Fähigkeit zu »paranoischer« Interpretation ihm keineswegs abgeht, obwohl er sie für gewöhnlich nur im unentwickelten Zustand besitzt. Aber er ist guten Glaubens bereit, der vorgeschlagenen Auslegung beizustimmen; in dieser Hinsicht beträgt er sich wie Polonius: mehr noch, wenn er sich eine gewisse Frische des Gefühls bewahrt hat, empfindet er ein ungeheucheltes Vergnügen, die Illusion eines anderen zu teilen. Hier liegt eine Quelle tiefer Kommunikation zwischen den Menschen, und es geht nur darum, sie von allem zu befreien, was sie verdeckt und trübt. Die Gegenstände der Wirklichkeit sind nicht nur als solche vorhanden: aus der Betrachtung der Linien, aus denen die allergebräuchlichsten bestehen, ergibt sich - ohne daß man eigens die Augen zusammenzukneifen brauchte - ein bemerkenswertes Rätsel-Bild, mit dem der Gegenstand eins ist und das uns unmißverständlich über den einzig wirklichen.) uns angehenden Gegenstand, über unsere Begierde, unterhält. Es versteht sich, daß was von dem in Rede stehenden graphischen Komplementärbild gilt, nicht minder auf ein gewisses verbales Bild zutrifft, auf welches die ihres Namens würdige Poesie sich von jeher berufen hat.

Solche Bilder, deren schönsten Beispielen man bei Lautréamont begegnet, sind mit einer Überzeugungskraft ausgestattet, die auf das strengste der Heftigkeit des ersten durch sie ausgelösten Schocks proportional ist. Daher kommt es, daß sie auf kurze Entfernung berufen sind, als Offenbarungen zu wirken. Noch einmal: die Ablösung der Handlungen selber, der zu vollbringenden Akte von der Gesamtheit der bereits vollbrachten Akte wird sich an dem Tage ereignen, an dem man in der Lage ist, diese Gesamtheit, wie das Ganze einer Mauer oder einer Wolke, mit Gleichgültigkeit zu betrachten. An dem Tage, an dem man Mittel und Wege gefunden haben wird, sich vorsätzlich aller logischen und moralischen Bedenken zu entschlagen.   - André Breton, L'Amour fou. Frankfurt am Main 1983 (zuerst 1937)

Fähigkeit Paranoia

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