Fabelvogel  Der Siebenfarbentangar ist ein tropischer Vogel, etwa so groß wie bei uns daheim die Amsel, deren freches Auge er hat, aber im Gegensatz zu unserer Amsel, diesem feurigen, schwarzen, glatten und enggeschnürten Raufbold, ist der Siebenfarbentangar ständig verschreckt, eine zerzauste, aufgeregte Federkugel, die hin und her flattert wie der Federball, den man unablässig mit leichten Schlägen einander zuspielt.

Es heißt, daß Brasilien mit Ausnahme von zwei Arten, der heiligen Python Indiens und der Hornviper Formosas, alle Schlangenarten der Welt, dazu die ihm eigenen aufweist, und deshalb nennt man diese brennende Erde, die Hölle des Urwalds, das Paradies der Schlangen. Und nun stellen Sie sich vor, daß der Siebenfarbentangar mit Ausnahme von zwei Arten von Federn, denen des Pfaus und denen des Leierschwanzes, in seinem schwarzen Wams ein Paar von all den verschiedenen Federn stecken hat, die den Stolz und die Koketterie aller anderen Vögel der Welt ausmachen, und wenn die Eingeborenen diesen Harlekin Siebenfarber nennen, so meinen sie damit, daß dieser Vogel einem Regenbogen gleicht, ein Wesen ist, das vom Licht lebt, ein Tautropfen, ein Geist, ein Hauch, ein glückbringendes Pochen, und deshalb halten sie auch so viele davon in Käfigen. Nicht eine Hütte, die nicht ihren eigenen Siebenfarber hätte.

Läßt man auf einer einsamen Lichtung im Urwald, wo diese Vögel zu Tausenden herumtollen, einen Schwärm Siebenfarber aufflattern, so steht man geblendet, und nie wieder vergißt man den erhabenen Eindruck, die tiefe Bewunderung, die diese Wolke von Flügeln, Federn und vielfarbigem Flaum in einem wachrief, dieses Gefunkel, diese Brechung und Spiegelung im Sonnenlicht, als schmelze eine Million von Edelsteinen in der überhitzten Atmosphäre, aufzuckend vor dem dunklen Hintergrund der Wälder...

Aber nicht so sehr, um mein Mädchen die außergewöhnliche Farbsortierung, mit der er sich schmückte, bewundern zu lassen, war mir so darum zu tun, einen dieser sehenswerten Vögel heimzubringen, sondern vielmehr, damit das Kind aus Batignolles, das neben dem Tunnel wohnte und den ganzen Tag die Züge pfeifen hörte, die darin verschwanden, einmal wirklich seinen Ruf, seine echte Stimme höre. Ich sage seine Stimme, ich sage seinen Schrei, und ich wage nicht zu sagen seinen Gesang, denn wie sollte ich das Gezwitscher des Siebenfarbers definieren, der sich, wenn man ihn erst einmal vernommen hat, augenblicklich in das verblüffendste Jahrmarktsspielzeug verwandelt, das es gibt. Man braucht ihn nicht aufzuziehen, um ihn lebendig zu machen. Wenn es den Vogel dazu drängt, seine Singübungen zu machen, hüpft er auf den Boden, wälzt sich im Staub, wird vom Veitstanz erfaßt, dreht sich zwei- oder dreimal um die eigene Achse, schlägt mit den halbsteifen Flügeln, dann wirft er den Kopf zurück und läßt wie in Ekstase aus seiner Kehle, die vor Anstrengung zuckt und sich bläht, ein Schnauben, ein Gurgeln aufsteigen, wie das Pfeifen eines verstopften Ventils, das Dampf ausläßt, und dann ertönt plötzlich ein schriller Pfiff, der, begleitet von Brusttönen, erstickt, und die Ekstase des Siebenfarbers endet je nach dem Grad der Widerstandskraft seiner Stimmbänder und den Fähigkeiten des einzelnen entweder in einem langen, perlenden Gelächter, einem herzzerreißenden Röcheln oder einer Reihe von Schluchzern. Dann kommt der verzückte Vogel wieder zu sich, schüttelt sich und fliegt davon, aber während er Luft holt und sich aufplustert, kann man die Hand auf ihn legen und ihn fangen. Jeder eingeborene Junge hat ein solches Spielzeug. In einem Schilfkäfig. An der Tür jeder Hütte hängt einer. Und die Kinder lachen, wenn der Vogel singt. Das tut er mehrmals am Tag, eher aus Übermut denn des Zeremoniells wegen. Ein Schutzgeist, ein Spielzeug, ein Glücksbringer. So etwas braucht man im Wald, wo ein Blatt, das sich bewegt, Angst macht.

Und dennoch sind sie zarte, anfällige Geschöpfe, und jeden Tag sterben Millionen von ihnen, und nie findet man ein gebleichtes Skelett und höchst selten einen blutenden Leichnam.  -  (cend)

 

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