Exot  Die Straße ist plötzlich anders geworden, die vermooste Straße, die tote Straße, die offensichtlich niemand mehr weiterführte: gut dreihundert Jahre ist hier niemand mehr gegangen! Aber jetzt ist da ein in der Erde lebender Pfad. Jeden Tag setzen hier Schritte auf. Und nun kommt mir auch wirklich eine plappernde Herde gemächlicher, sanfter Greise entgegen: ich werde sie um Aufnahme bitten, ihnen meine Genugtuung bezeugen, daß sie wirklich existieren, dort wo meine Leute ihre nichtende Leere, ihre Abwesenheit behauptet hatten... Sie geben mir recht... Ich werde also...

Aber ich bleibe sprachlos, verwundert vor ihnen stehen, verspüre nur noch diese Furcht (nicht daß sie sehr anders wären als die übrigen Greise, denen ich in den ändern Dörfern gewöhnlich begegne). Sie tragen nicht die zeitgenössischen Mandschuzöpfe... Sie haben die aufgesteckten Haarknoten der alten Ming-zeit und die langen Gewänder, wie man sie auf die Porzellangefäße malte. Das ist weniger verwirrend als der eigenartige Ausdruck ihrer Augen; denn zum ersten Mal werde ich nicht wie ein fremdartiger Gegenstand betrachtet, den man nur selten sieht und der einen amüsiert, sondern wie ein Wesen, das man noch nie gesehen hat Diese Alten, deren Augen so viele Sonnen gesehen haben, schauen mich genauer an als die Kinder in den allerentlegensten Straßen...

Bei der chinesischen Neugier überkommt einen die Lust, mitten in das Pilzbeet der aufgerissenen Gesichter zu spucken. Hier dagegen nur Edles und eine mächtige, umgekehrte Exotik: diese Blicke sind unbekannter als alles sonst; offenbar erblicken diese Leute zum erstenmal auf der Welt das verrückte Wesen, das ich unter ihnen vorstelle. Ich fühle mich unbelächelt beobachtet, entblößt, fühle mich beschaut und nackt. Ich fühle mich zum Gegenstand des Geheimnisses werden.

Sollten diese Leute demnach aus einer anderen Epoche sein... In der Tat hat niemand einen Zopf... oder... sollten sie noch vor der Zeit der Eroberung durch die Tartaren sein? Sie hätten also fast dreihundert Jahre Abstand... Und das sind jedenfalls die weitausholenden Gebärden der Ming, der Stil und die Urväter-Menschheit vor sechs oder sieben Generationen der alten Ming. Es sind die gebannten, die gebrannten, Glas gewordenen Gebärden im Porzellan. Und doch leben sie. Werden sie auch sprechen?   - Victor Segalen, Aufbruch in das Land der Wirklichkeit. Frankfurt und Paris 1984 (zuerst 1924)

Exot (2)

 

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