ßkultur
Ist Eßkultur vielleicht keine Kultur, ruft Herr Mayrock. O doch,
sagt Basil, und läßt sich herbei, den Herrschaften zu erklären, warum die
reichen Leute soviel kultivierter essen müßten als die Armen. Wer an der Maschine
steht oder vor Ort oder auf der Baustelle, der kann abends wirklich alles essen,
dessen Nähraufwand muß nur assortiert werden nach Kalorienzahl, das kostet nicht
viel, so einem schmeckt's schnell, aber der arme Reiche, der hat vom Mittag
noch das Völlegefühl, der ist nicht viel los geworden am Nachmittag, und doch
soll er abends schon wieder essen. Oft muß er sogar dem Geschäftsfreund zuliebe.
Zeigt er dem keinen Appetit, glaubt der doch gleich, die Firma ist fallit. Also
bedarf es phantastischer Speisen, köstlicher Reize und eines zwingenden Aufwands
beim Servieren, kurzum, es bedarf der Eßkultur, sonst müßte der Reiche jeder
Mahlzeit mitSchrek-ken entgegensehen, und das nenn ich, sagt Basil, ohne Spott
Gerechtigkeit, das will Basil nicht verstanden wissen als einen kritischen Einfall,
das beschreibt er als historisch-biologische Tatsache. Eßkultur als aktive Anpassung
der Reichen an ihre unverschuldete Appetitlosigkeit. Die Reichen wollen nicht
besser essen, sie müssen. Und selbst unter ihrem Feinsten leiden sie noch, denn
geht's aufs Clo, die Damen mögen's verzeihn, ist der Arme schon wieder besser
dran. Wer kann den listenreichen Kampf, den die besseren Kreise um ihre Verdauung
führen, oline Anteilnahme betrachten? wer kennt nicht den Zorn gegen die heillosen
Ärzte, die einem bloß Mühsal verschreiben, anstatt einem zu helfen! auf den
Spazierweg schicken sie einen, alles muß man selber tun, Gymnastik, sinnlos
den Rumpf beugen, und wer nicht durchhält, wem etwa die Energie ausgeht bei
der minutiösen Überwachung der schrecklichen Verdauung, der liegt herum in gastrokardialen
Wehen, dem drückt's das Zwerchfell unters Herz, daß er den Schnaufer nicht mehr
kriegt, grad, daß er noch rufen kann: der Infarkt ist da, und dann kommt der
Doktor und sagt: Roemheld, Herr Direktor, Ihnen fehlt die Bewegung, also der
Wind, ja, das ist ein ergreifender Jammer! Ob einer Hungers stirbt oder an der
Fettembolie ist doch wirklich egal, trotzdem gilt die Sympathie der Welt einseitig
den Opfern des Elends, da fragt man sich doch, ist das noch gerecht. - Martin Walser, Das Einhorn. Frankfurt am Main
1966
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