Essen, schweres   Da bin ich nun, vielleicht weil das Gewicht des Mittagessens auf meinem Magen lastete, wie es mir in Stunden der Angst immer ergeht, eingeschlafen. So scheint es mir, denn fast unmittelbar danach betrat ein sonderbares, rot gekleidetes Mädchen den Bibliothekssaal. Ihr Kleid war auf dem Rücken offen: ein weites Dekolleté zeigte den Wildkatzenrücken eines Jaguars und legte unterhalb der Arme die Hügel der Brüste bloß. Der Flaum ihrer wundervollen Achseln blieb nicht auf sie allein begrenzt; in einem engen, geraden Büschel zogen sie sich an dem sanften weißen Hang der Brüste hinauf und verliehen ihnen ein seltsam fremdartiges, wildes Aussehen. Auf jeder ihrer Schultern saß ein Sperber, der eine schwarz, der andere rot, und eine Korallenschlange diente ihr als Halskette. Sie blickte mich mit einem faszinierenden, grausamen Gesichtsausdruck an, sagte aber nichts. Sie schritt auf eine weiße Wand zu, hob, ohne mich aus den Augen zu lassen, die Hand und malte mit dem Zeigefinger Linien, horizontale Linien. Und wie ihr Finger an den Linien entlangfuhr, bedeckte sich die Wand mit feurigen Lettern. Ich fragte mich selbst entsetzt, wer sie wohl sein mochte. Doch im Grunde wußte ich es schon: es war das schreckliche Caetaner-Mädchen, die grausame Todesgöttin des Sertão, die ihre Auserwählten mit ihren langen, an der Spitze zu Krallen gebogenen Nägeln zur Ader läßt.

Die Worte, die sie mit Feuer in die Wand eingravierte, erschienen mir mit übernatürlicher Klarheit. Ich wollte schreien, flüchten und sie gleichzeitig tief ins Blut des Gedächtnisses aufnehmen. Denn ich wußte, daß sie mir etwas Grundlegendes, Gefährliches, Sonderbares und Unenträtselbares, aber entscheidend Wichtiges mitteilten. Ich muß einen Moment lang in dem halb schlafenden, halb wachenden Dämmerzustand verblieben sein, in den man in solcher Lage zuweilen gerät. Ich sage das, weil Papier und Bleistift auf dem niedrigen Tischchen lagen und ich im Traum begann, fieberhaft aufzuzeichnen, was das Feuer an der Wand sichtbar werden ließ. In dem Maße, in dem ich die Worte nachschrieb, fühlte ich mich immer stärker bedroht. Plötzlich stieß ich einen Schrei aus und erwachte. Das Mädchen war verschwunden, und ich schrieb unzusammenhängendes Zeug auf das Papier. Was ich schrieb, entsprach dem, was sie geschrieben hatte, und entsprach ihm auch wieder nicht. Ich versuchte nun, in wachem Zustand das, was ich geschrieben fand, in größere Übereinstimmung mit dem zu bringen, was mir von den Worten an der Wand in Erinnerung geblieben war. Das Ergebnis deckte sich nicht. Ein gewisser drohender Inhalt kam nicht heraus, und die Umgebung, in der das alles wirklich seine Bedeutung besessen hatte, war mit dem Traum verschwunden. Das, was ich wiederzugeben vermochte, lasse ich hier folgen, weil es ebenfalls ein wichtiges Dokument für den Prozeß darstellt:

»Das Urteil ist schon gesprochen. Verlassen Sie Ihr Haus Und überqueren Sie die felsige Hochebene. Ihnen gehört nur das, was Sie zu entziffern vermögen. Trinken Sie das Feuer in der Steintasse des Felsplateaus. Untersuchen Sie das scheckige, goldblonde Fell des Jaguars, das rote Fell des Pumas, den Kaktus mit den bestirnten Früchten. Verzeichnen Sie den Vogel mit seinem goldschwarzen Pfeil und die brennende Fackel der blutfarbenen Bromelien. Retten Sie, was zugrunde geht: das geheiligte Ephemere - die vergeudeten Energien, den Kampf ohne Größe, das insgeheim ermordete Heldenhafte, das von den Gestirnen Bezeichnete - alles, was, wenn es einmal in Sicherheit gebracht und bezeichnet worden ist, für immer Ihr ausschließliches Eigentum sein wird. Verherrlichen Sie die Rasse der verborgenen Könige mit der bluttropfenden Krone; den Ritter auf seiner Irrfahrt; die Dame mit den verborgenen Händen, die Engel mit ihrem Schwert und die gefleckte Sonne des Göttlichen mit ihrem goldenen Sperber. Zwischen der Sonne und den Disteln, zwischen Steinen und Gestirnen wandern Sie im Unbegreiflichen. Deshalb müssen Sie, auch wenn Sie es nicht entziffern, das Rätsel der Grenze besingen, die sonderbare Region, wo das Blut in den Feueraugen des Gefleckten Jaguars des Göttlichen verbrennt. Tun Sie das, sonst droht Ihnen die Todesstrafe! Aber seien Sie sich schon jetzt bewußt, daß es umsonst ist. Zerreißen Sie die Silbersaiten der Gitarre: das Gefängnis ist schon beschlossene Sache. Feste Riegel und rostige Schlösser sind dort befestigt. Der Galgen ist aus frischem Holz errichtet, die Klinge der Axt ist geschliffen worden. Das Rätsel bleibt bestehen. Das Schweigen verbrennt das Gift der Schlangen, und auf dem Gefilde des bluttriefenden Traumes brennt glühend der verlorene Traum und versucht vergeblich, seine für immer zerstörten Tage wiederherzustellen.«   - (stein)

 

Mahlzeit

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme