Fskalation   Die Rentnerin war von allen bösen Zungen niemals die faulste; sie leitete das Fest der Schmerzen, den entmenschten Reigen des Hohns um Prudence Hautechaume. Und diese, vereinsamt unter den Sternen am Fuß ihrer Gaslaterne, dachte wehmütig an all die Dienste, die sie der Rentnerin erwiesen hatte; im Geiste ließ sie all die Abende vorüberziehen, die sie einer Frau gewidmet hatte, mit der man sich nicht unterhalten und die selber nicht bis zehn zählen konnte, des winzigen Vorteils wegen, im Schein ihrer Lampe zu sitzen; all die Umschläge, die sie ihr gemacht hatte, wobei sie sich begnügt hatte, die Wattereste und Mullbindenenden mitzunehmen, die man ihr überließ; all die Abrechnungen, die sie in die kleinen gelben Bücher nach Soll und Haben eingetragen hatte, ohne je etwas zu unterschlagen. Daß die Rentnerin, die einzige ihrer Anklägerinnen, die sie niemals, auch nicht um das geringste, bestohlen hatte, sich darauf versteifte, sie auf die bloße Versicherung einer Grosdurant hin unwiderruflich zu verdammen, erbitterte Prudence auf das höchste, wobei diese Erbitterung sich sehr viel mehr gegen die Rentnerin richtete als gegen die Grosdurant selber.

Eines Tages endlich, vor aller Welt und auf offenem Markte, stach die giftgeschwollene Rentnerin zu: «Du wirst wohl demnächst dein Bild im Morgenblättchen sehen, du Diebsstück?» Prudence zerbiß sich die eigenen Lippen-, die trocken wie Holz waren und bleich vor Leiden. Die Verbrechen, deren man sie fälschlich beschuldigte, nahmen solche Ausmaße an, daß sie zuletzt die Erinnerung an die Verirrungen tilgten, die sie begangen hatte.

Die Rentnerin ließ ihren Milchtopf im Treppenhaus stehen, um dem Milchmann die Mühe zu ersparen, in den ersten Stock hinaufzusteigen; an diesem Morgen ließ Prudence, die außer sich war, es dabei bewenden, hineinzuspucken. Anderntags hatte die Rentnerin auf dem Treppenfenster, während sie eben zum Bäcker gegangen war, ihr Brot einzukaufen, einen Braten abgestellt, den sie aus dem Restaurant nach Hause gebracht hatte. Prudence, nichts Arges im Sinn, kam mit ihrem Toiletteeimer die Treppe herunter. «Und führe uns nicht in Versuchung.» Warum befand der Braten der Rentnerin sich auf ihrem Wege? Prudence gießt «ihre Wasser» darüber.

Kaum hatte die Rentnerin die unterste Stufe der Treppe betreten, als der ekelerregende Geruch, der von der heißen Platte strömte, ihr den Atem benahm. Sie ahnte gleich, was vorgefallen war, und brach in ein Jubelgeheul aus, als sei sie von allem Übel erlöst. Die Gemüsehändlerinnen, die sich auf ihrem Bänkchen vor den stummen Kohlköpfen langweilten, die Bauern, die froh waren, ihre stumpfsinnigen Gespräche abzubrechen, eilten herbei, drängten sich im Kreis um die Binches, die Cormelins und die Rentnerin, die sich über das verpestete Gericht beugten. Das Kommissariat sah die ganze Meute angetrabt kommen, und der Braten wurde dem gerichtlich vereidigten Apotheker zur Untersuchung übergeben. Eine Stunde später begab die Staatsanwaltschaft sich zu der «Giftmischerin», und der Kommissar verhaftete sie.   - Marcel Jouhandeau, Prudence Hautechaume oder Die Schaufensterpuppen der Diebin. In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964

 

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