Es nicht lassen können   Der fünfzigjährige Mann hatte eine hellrote Quetschung am linken Mundwinkel, und seine Lippen begannen anzuschwellen. Er schüttelte den Kopf. Schaute sich genau an. Er hat das schmerzliche und vertraute Gefühl, sein Eeben verpfuscht zu haben. Er erinnert sich: Er kommt in den zwanziger Jahren auf den Antillen zur Welt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ist er Waise, mittellos, besitzt aber ein Boot, mit dem er nach Sudamerika übersetzt. Die Blockade Norwegens fuhrt auf dem Weltmarkt zu einer Verknappung von Lebertran. Epaulard geht auf Haifischfang und macht mit Haifischlebertran ein Vermögen. Ein paar Monate spater ist er in Frankreich und verliebt. Und aus Liebe tritt er der Résistance bei. Im Frühjahr 1944 verliert er, als Partisan bei der FTPF, wahrend eines heftigen Gefechts im Dauphiné seine Einheit. Zu diesem Zeitpunkt ist er nicht mehr verliebt. Da all seine Kontakte abgerissen sind, knüpft er neue zu gaullistischen Kräften und findet sich daraufhin im Vercors-Bergmassiv wieder.

Nach der Vernichtung des Widerstandes im Vercors empfindet Épaulard, der dem Gemetzel entkommen ist, einen ausgeprägten Haß auf die Bourgeoisie und die Gaullisten. Er ist ein einsamer Mann. Und wird Killer. In den Jahren zwischen 1945 und 1947 tötet er fünf oder sechs Menschen, aus Überzeugung und für Geld. Da es ihm mit Glück und Raffinesse gelingt, sowohl seinen Kunden gegenüber als auch bei der Polizei Frankreichs ein Unbekannter zu bleiben, kann er in die Kommunistische Partei Frankreichs, PCF, eintreten. Streiks im Norden. Épaulard verübt Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken, auf denen die Panzerwagen und die Repressionstruppen ankommen. Er hat den Geschmack von Asche im Mund. Beschließt, Jules Moch zu töten. Nimmt wieder Abstand davon. Er ist völlig aus dem Lot. Betreibt eine kleine Druckerei in der Pariser Banlieue. Und bezahlt seine Beiträge an die Partei nicht mehr.

Von 1957 an druckt er alle möglichen Untergrundbulletins von diversen oppositionellen Fraktionen der PCF. Schon bald darauf wird er für die franzosische Föderation des algerischen FLN arbeiten. Er verlaßt Frankreich im Jahr 1962 und arbeitet in Algier zusammen mit Pablisten am «Plan». Nach dem Sturz Ben Bellas im Jahr 65 verläßt er Algerien. Hält sich kurzzeitig in Guinea auf. Später trifft man ihn dann wieder in Kuba, wo er unter Enrique Lister arbeitet. Zu dieser Zeit ist Épaulard schon korrupt. Bereits in Algerien hat er mit dem Verschieben von herrenlosem Gut Geld gemacht. In Kuba widmet er sich dem Schwarzhandel. Er wird kaltgestellt. Reist in Südamerika herum. Bis man seine Spur verliert. Und jetzt ist er wieder zurück in Frankreich. Er hatte die chinesische Pistole aus seinem Mantel geholt und drückte sich den Lauf an den Hals. Er hatte den Finger am Abzug.

«Da kann ich mich auch gleich erschießen», erklärte er seinem Spiegel.

Er seufzte und erschoß sich nicht.  Verstaute die Pistole, ein Nachbau der russischen Tokarew, wieder. Er schaute auf seine Uhr. Punkt fünf. Épaulard entschied, daß er am Abend zu diesem Anarcho-Treffen gehen würde.

«Scheiße, was soll's!» sagte er zu seinem Spiegel.  - Jean-Patrick Manchette, Nada. München 2006 (zuerst 1972)

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