Erzählzusammenhang   Manchmal zeigten die Fotos eine Schulter, eine Hand an einer Tür, das Ende eines Spaziergangs auf dem Land, den zum Schrei geöffneten Mund, ein Paar Schuhe in einem Kleiderschrank, Menschen auf dem Champ de Mars, eine benutzte Briefmarke, den Duft von Ma Griffe und dergleichen mehr. Morelli glaubte, daß der Erlebnischarakter der Fotos, den er mit der größtmöglichen Schärfe darzustellen versuche, den Leser in die Lage versetzen müßte, sich auf das Schicksal seiner Gestalten wie auf ein Abenteuer einzulassen, ja, an ihm teilzunehmen. Was der Leser auf dem Weg der Imagination über sie erfahre, konkretisiere sich sogleich zur Aktion, ohne irgendeinen Kunstgriff, der dazu bestimmt wäre, es ins bereits Geschriebene oder noch zu Schreibende zu integrieren. Die Brücken zwischen dem einen und dem anderen Augenblick in diesen so vagen und schwach umrisse-nen Leben müßte der Leser als gegeben hinnehmen oder selbst erfinden, von der Art sich zu kämmen, falls Morelli diese nicht erwähnte, bis zu den Gründen für eine ordentliche Lebensweise oder eine liederliche, wenn sie ungewöhnlich oder exzentrisch zu sein schien. Das Buch sollte etwas von den Zeichnungen haben, die die Gestaltpsychologie vorschlägt: die vorhandenen Linien sollten den Beobachter dahin bringen, die zum Abschluß einer Gestalt fehlenden Linien in seiner Vorstellung zu ergänzen. Aber zuweilen seien die fehlenden Linien die wichtigsten, die einzigen, die wirklich eine Bedeutung hätten. Morellis Koketterie und Anmaßung auf diesem Gebiet waren grenzenlos.

Las man das Buch, hatte man zuweilen den Eindruck, daß Morelli erwartet hatte, die Häufung von Fragmenten werde sich mit einemmal zu einer Gesamtrealität kristallisieren. Ohne daß man Brücken erfinden oder die verschiedenen Teile des Wandteppichs zusammennähen müßte, würden plötzlich eine Stadt, ein Wandteppich, Männer und Frauen da sein in der absoluten Perspektive ihres Werdens, und Morelli selbst, der Autor, wäre der erste staunende Betrachter dieser Welt, die in einen Zusammenhang eintrat.

Aber allzusehr konnte man der Sache nicht trauen, denn Zusammenhang hieß ja im Grunde, Assimilation an Zeit und Raum, Anordnung nach den Wünschen des Leser-Weibchens. Morelli wäre nicht damit einverstanden gewesen, er schien vielmehr eine Kristallisation zu suchen, die, ohne die Unordnung zu verändern, in welcher die Körper seines kleinen Planetensystems kreisten, das allgegenwärtige und totale Verständnis ihrer Voraussetzungen ermögliche, ganz gleich ob diese nun die Unordnung, die Gehaltlosigkeit oder die Unbedingtheit seien. Eine Kristallisation, in der nichts untergeordnet wäre, in der aber ein luzides Auge das Kaleidoskop überblicken und die große polychrome Rose verstehen könn­te als eine Figur, als imago mundi, die sich außerhalb des Kaleidoskops in ein Wohnzimmer im provenzalischen Stil verwandelt oder in ein Damenkränzchen, wo man Tee trinkt und dazu Bagley-Kekse ißt.   - (ray)

 

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