Erzählstoff    Ich krame zu viele Geschichten auf einmal aus, aber ich möchte, daß man rings um die Geschichte, die ich erzähle, eine Überfülle von anderen Geschichten spürt, die ich auch erzählen könnte und vielleicht noch erzählen werde oder womöglich schon mal bei anderer Gelegenheit erzählt habe, einen Raum voller Geschichten, der vielleicht nichts anderes ist als die Zeit meines Lebens, die man kreuz und quer in jeder Richtung durchstreifen kann wie einen Raum, und immer stößt man auf neue Geschichten, die nur erzählt werden können, wenn vorher andere erzählt worden sind, so daß man, egal wo man anfängt, immer die gleiche Dichte an Erzählstoff vorfindet, Ja, wenn ich insgesamt überschaue, was ich bei der Haupterzählung alles beiseitelasse, sehe ich vor mir etwas wie einen Wald, der sich in alle Richtungen ausdehnt und so dicht ist, daß er kein Licht durchläßt, mit anderen Worten, einen viel reicheren Stoff als den, der für diesmal im Vordergrund stehen soll, weshalb es sein kann, daß meine Zuhörer sich ein bißchen betrogen fühlen, wenn sie merken, daß der Strom in tausend Rinnsale versickert und daß sie von den wesentlichen Ereignissen nur den letzten Nachhall und Widerschein mitbekommen, aber es kann auch sein, daß eben dies der Eindruck ist, den ich hervorrufen wollte, als ich zu erzählen begann, oder sagen wir: ein erzählerischer Kunstgriff, den ich anzuwenden versuche, eine Regel der Diskretion, die darin besteht, mich immer ein wenig unterhalb meiner erzählerischen Möglichkeiten zu halten.   - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
 

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