rzählen

Die Hunde begannen die Küche zu kehren,
Die Enten begannen zu bellen.
Schwimmen gingen die Besen.
Nicht viel Verkohltes werde ich ihr nachwerfen,
Doch auch nicht versäumen, sie zu verjagen.

So muß man sagen, um eine echte, wirkliche Geschichte zu beginnen! - (arauk)

Erzählen (2) Um auf mechanische Weise das Hirn einer einschläfernden Geschichte zu konstruieren, genügt es nicht, Dummheiten zu zerlegen und die Intelligenz des Lesers mit immer neuen Dosen gewaltig abzustumpfen, so daß seine Fähigkeiten für den Rest seines Lebens durch das unfehlbare Gesetz der Müdigkeit gelähmt sind; man muß ihn außerdem mit gutem magnetischem Fluidum auf findige Weise in die nachtwandlerische Unmöglichkeit versetzen, sich zu bewegen, indem man ihn zwingt, seine Augen gegen sein Naturell durch die Unbeweglichkeit der euren zu verdunkeln. Ich will sagen, nicht um mich besser verständlich zu machen, sondern nur um meinen Gedanken zu entwickeln, der durch eine der penetrantesten Harmonien interessiert und zugleich irritiert, daß ich es zur Erlangung des gesetzten Zieles nicht für notwendig halte, eine Dichtkunst völlig außerhalb des Naturablaufs zu erfinden, deren verderblicher Hauch selbst die absoluten Wahrheiten zu erschüttern scheint; ein solches Resultat herbeizuführen (das übrigens mit den Regeln der Ästhetik übereinstimmt, wenn man es recht überlegt) ist aber nicht so leicht wie man denkt: das ist es, was ich sagen wollte. Darum werde ich mir jede Mühe geben, es zu erreichen!

Sollte der Tod die phantastische Magerkeit der zwei langen Arme meiner Schultern, die zur grausigen Zerstampfung meines literarischen Gipses verwendet werden, zum Stillstand bringen, dann soll der trauernde Leser wenigstens sagen können: «Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat mich sehr verblödet. Was hätte er nicht getan, wenn er länger am Leben geblieben wäre! Er ist der beste Lehrer des Hypnotismus, den ich kenne!» Diese wenigen rührenden Worte wird man in den Marmor meines Grabes meißeln, und meine Manen werden befriedigt sein! — Ich fahre fort! Da war ein Fischschwanz, der sich in der Tiefe eines Loches neben einem abgetretenen Stiefel bewegte. Es war nicht natürlich, sich zu fragen: «Wo ist der Fisch? Ich sehe nur den Schwanz, der sich bewegt.» Denn, wenn man stillschweigend zugab, den Fisch nicht zu sehen, so deswegen, weil er in Wirklichkeit gar nicht da war. Der Regen hatte einige Wassertropfen auf dem Grunde dieses in den Sand gehöhlten Trichters zurückgelassen. Was den abgetretenen Stiefel betrifft, so haben einige seitdem vermutet, daß er absichtlich dort zurückgelassen worden war. Der Taschenkrebs sollte durch göttliche Macht aus seinen aufgelösten Atomen von neuem geboren werden. Er zog den Fischschwanz aus dem Brunnen und versprach ihm, ihn mit seinem verlorenen Leib wieder zu vereinigen, wenn er dem Schöpfer die Machtlosigkeit seines Bevollmächtigten, die rasenden Wogen des maldororischen Meeres zu beherrschen, verkündete. Er lieh ihm zwei Albatrosflügel und der Fischschwanz schwang sich empor. Aber er flog zur Behausung des Abtrünnigen, um ihm zu erzählen, was sich begeben hatte und den Taschenkrebs zu verraten. Dieser durchschaute den Plan des Spions, und bevor der dritte Tag sein Ende erreichte, durchbohrte er den Fischschwanz mit einem vergifteten Pfeil. Die Kehle des Spions stieß einen schwachen Schrei aus, und er tat den letzten Atemzug bevor er die Erde berührte. Da richtete sich ein hundertjähriger Balken, der auf dem Dachstuhl eines Schlosses lag, zu seiner ganzen Höhe empor und schrie, indem er über sich selber sprang, laut nach Rache. Aber der in ein Nasorn verwandelte Allmächtige lehrte ihn, daß dieser Tod verdient sei. Der Balken beruhigte sich, suchte sich einen Platz in der Tiefe der Burg, nahm seine horizontale Lage wieder ein und rief die verscheuchten Spinnen zurück, um sie, wie einst, in seinen Winkeln ihre Netze weiterspinnen zu lassen. Der Mensch mit den Schwefellippen erfuhr von der Schwäche seines Verbündeten; darum befahl er dem gekrönten Narren, den Balken zu verbrennen und ihn in Asche zu verwandeln. Aghone führte diesen strengen Befehl aus. «Da, euch zufolge, der Augenblick gekommen ist, rief er, habe ich den Ring, den ich unter dem Stein vergraben hatte, zurückgenommen und ihn an ein Ende des Kabels gebunden. Hier ist das Bündel.» Und er reichte ihm ein dickes, eingerolltes Seil von sechzig Metern Länge. Sein Meister fragte ihn, was die vierzehn Dolche täten. Er entgegnete, daß sie in Treue verharrten und sich, falls nötig, für jedes Ereignis bereit hielten. Der Zuchthäusler neigte sein Haupt zum Zeichen der Befriedigung. Er zeigte sich überrascht und sogar beunruhigt, als Aghone hinzufügte, daß er einen Hahn gesehen hätte, der mit seinem Schnabel einen Kandelaber in zwei Teile gespalten, den Blick der Reihe nach in jeden der beiden Teile getaucht und seine Flügel frenetisch schlagend, ausgerufen habe: «Es ist nicht so weit wie man denkt von der Rue de la Paix zur Place du Pantheon. Bald wird man den kläglichen Beweis dafür erhalten!» Der Taschenkrebs, der ein feuriges Roß bestiegen hatte, jagte mit verhängtem Zügel in der Richtung der Klippe davon, Zeuge des von einem tätowierten Arm geschleuderten Knüppels, dem Asyl des ersten Tages seines Abstiegs zur Erde. Eine Pilgerkarawane befand sich auf dem Wege zu diesem Ort, der hinfort durch einen erhabenen Tod geweiht war. Er hoffte, sie zu erreichen, um dringende Hilfe gegen das in Vorbereitung befindliche Komplott von ihr zu erbitten, das ihm zu Ohren gekommen war.

Einige Zeilen weiter werdet ihr mit Hilfe meines eisigen Schweigens erkennen, daß er nicht zeitig genug ankam, um ihnen zu erzählen, was ihm ein Lumpensammler berichtet hatte, der hinter dem benachbarten Gerüst eines im Bau befindlichen Hauses versteckt, am Tage, da der Pont du Carrousel, noch von dem feuchten Tau der Nacht bedeckt, mit Entsetzen bemerkte, daß der Horizont seines Denkens sich durch die morgendliche Erscheinung des rhythmischen Knetens eines zwanzigflächigen Sackes gegen sein Kalksteingeländer unbestimmt in konzentrischen Kreisen vergrößerte! - (mal)

Erzählen (3) Die Erzählung, die die Möglichkeiten des Lebens offenbart, erfordert nicht unbedingt, erfordert aber letzten Endes doch ein Moment der Raserei, ohne welches ihr Autor blind wäre für diese exzessiven Möglichkeiten. Ich bin dessen gewiß: nur der beklemmende und unmögliche Versuch gibt dem Autor die Mittel in die Hand, die ferne Vision zu erzwingen, die ein Leser, den die enggezogenen Grenzen der Konventionen müde gemacht haben, von ihm erwartet.

Wie können wir bei Büchern verweilen, zu denen der Autor nicht fühlbar gezwungen worden ist?  - (bat)

Erzählen (4) Noch in der letzten Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich nichts tat als lesen. Es handelte sich um eine Stelle aus dem Johannes-Evangelium, die mir unbekannt war, eine reine Erzählung, wo nichts stand als »Und er verließ . . . und er aß ... und sie sagten . . . und als es Abend wurde . . . und sie versammelten sich . . . und er setzte sich . . . und als die Sonne aufging .... und wir wuschen uns . . . und er sagte . . .«, in einer großen klaren Druckschrift mit ebensolchen, wie gefiederten Zwischenräumen, wobei ich das Gelesene gleichzeitig schaute, in Gestalt eines stetigen Dahinziehens jenes »er«, »sie« und »wir«, in Bewegung gesetzt von Lettern und Leere, wie es mir so dingfest, dabei so tänzerisch außerhalb dieses Buchs noch keinmal vorgekommen ist.

Und wie mein Lesen so mein Schreiben. Ich brauche . . . und ich hoffe . . . und ich wünsche . . . und ich habe einen Traum.

Ich habe für die Erzählung hier alle die Fraglichkeiten, das Durchspielen, die möglichste Geschlossenheit, entsprechend einem Gesetz, eine Zeitlang gebraucht. Nun hoffe ich, aus der Verzahnung, der Dinge wie der Worte, herauszutreten und den Gesetzeszwang loszuwerden. Denn ich wünsche mir mehr denn je, aufgehen zu können in einem fraglosen, nichts als, geradeso wie bei jenem Lesen, mitvibrierenden Dahinerzählen, zu welchem ich noch keinmal über mehr als einen Absatz hinaus, kommt mir vor, durchgedrungen bin. - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main 1994

Erzählen (5) Der König saß auf einem Thron aus purem Gold in der großen Halle seines Schlosses. Um ihn standen Wachen mit gezogenem Schwert. Vor ihm aber war ein Kessel aufgestellt, in dem über einem Feuer Öl siedete. »Ah«, sprach der König, als er den Mann mit der schwarzen Mütze vor sich sah, »wüßte ich nicht sicher, daß der Schwarze Dieb nicht mehr lebt, ich würde meinen, er stände hier vor mir.«

»Ich bin der Schwarze Dieb«, sprach der Mann mit der schwarzen Mütze.

»Wirklich?« fragte der König zweifelnd, »nun, das wird sich herausstellen. Aber wer sind diese drei jungen Männer?« »Wir sind die drei Söhne des Königs von Erin«, antworteten die Brüder.

»Also«, sprach der König, »beginnen wir mit dem Jüngsten. Schürt das Feuer unter dem Kessel, denn das Öl siedet nicht mehr.«

Darauf wandte sich Conal wieder an den Schwarzen Dieb und sagte: »Was meinst du, ist dieser junge Mann seinem Tod jetzt nicht sehr nahe?«

»Ich war meinem Tod schon näher«, sprach der Schwarze Dieb, »und dennoch bin ich entkommen.«

»Erzähl mir diese Geschichte«, sagte der König Conal, »wenn es so ist, wie du behauptest, wenn du dem Tod wirklich einmal näher gewesen bist als dieser junge Mann in diesem Augenblick, dann will ich dem Prinzen das Leben schenken.« »Das ist ein Wort«, sagte der Schwarze Dieb, und er begann, König Conal die folgende Geschichte zu erzählen. - Der Schwarze Dieb, in: (irm)

Erzählen (6) Der Vertreter nippte eine Weile an seiner Cola, die Zigarette locker zwischen fleischigen weißen Fingern. Kurz darauf griff er in die Innentasche seines Jacketts und holte eine Lederbrieftasche hervor. Eine ganze Weile blätterte er nachdenklich durch Karten und Papiere, Notizzettel, Fahrkartenabschnitte, Unmengen anderen Krimskrams, schmutzige Schnipsel - und endlich ein Foto.

Er grinste das Foto an, und dann lachte er leise auf, ein tiefes feuchtes Keuchen. »Sehen Sie mal«, sagte er zu dem Mann neben sich.

Der Mann las weiter in seiner Zeitung.

»He, sehen Sie mal.« Der Vertreter stieß ihn mit dem Ellbogen an und schob ihm das Foto hin. »Wie finden Sie das?«

Verärgert warf der Mann einen kurzen Blick auf das Foto. Es zeigte eine nackte Frau von der Hüfte aufwärts. Vielleicht fünf unddreißig Jahre alt. Das Gesicht abgewandt. Der Körper weiß und schwammig. Mit acht Brüsten.

»Haben Sie so was schon mal gesehen?« sagte der Vertreter glucksend, und seine kleinen roten Augen tanzten. Sein Gesicht verzog sich zu einem lüsternen Lächeln, und wieder stieß er dem Mann in die Seite.

»Ja, hab ich.« Angewidert las der Mann weiter in seiner Zeitung.

Der Vertreter merkte, daß der hagere alte Farmer das Bild betrachtete. Er reichte es freundlich an ihn weiter. »Was hältst du davon, Opa? Nicht schlecht, was?«

Der Farmer nahm das Foto ernst in Augenschein. Er drehte es um, studierte die zerknitterte Rückseite, sah sich ein zweites Mal die Vorderseite an, dann warf er es wieder dem Vertreter zu. Es rutschte von der Theke, drehte sich zweimal im Fallen und landete mit der Bildseite nach oben auf dem Boden.

Der Vertreter hob es auf und wischte es ab. Sorgfältig, fast zärtlich verstaute er es wieder in seiner Brieftasche. Die Augen der Kellnerin flackerten, als sie es flüchtig zu sehen bekam.

»Verdammt hübsch«, bemerkte der Vertreter mit einem Zwinkern. »Finden Sie nicht auch?«

Die Kellnerin zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich habe in der Gegend von Denver 'ne ganze Menge von denen gesehen, 'ne ganze Kolonie.«

»Da ist das Foto gemacht worden. Denver, DCA-Carnp.«

»Sind noch welche am Leben?« fragte der Farmer.

Der Vertreter lachte rauh. »Soll das ein Witz sein?« Er machte eine kurze, jähe Handbewegung. »Natürlich nicht.«

Sie hörten jetzt alle zu. Sogar die beiden Teenager am Tisch hatten aufgehört, Händchen zu halten, und saßen kerzengerade, die Augen vor Neugier weit aufgerissen.

»Hab in der Nähe von San Diego 'ne komische Sorte gesehen«, sagte der Farmer. »Irgendwann letztes Jahr. Hatte Flügel wie 'ne Fledermaus. Haut, keine Federn. Flügel aus Haut und Knochen.«

Der wieseläugige Taxifahrer mischte sich ein. »Das ist noch gar nichts. In Detroit gab es einen mit zwei Köpfen. Hab ich ausgestellt gesehen.«

»Lebendig?« fragte die Kellnerin.

»Nein. Hatten ihn schon euthanasiert.«

»In Soziologie«, meldete sich der Pennäler zu Wort, »haben wir Bänder mit ganz vielen von ihnen gesehen. Die mit Flügeln aus dem Süden, die mit dem großen Kopf, die man in Deutschland entdeckt hat, einen, der schrecklich aussah, mit Rüsseln, wie ein Insekt. Und -«

»Die allerschlimmsten«, stellte der ältliche Geschäftsmann fest, »sind die aus England. Die sich in den Kohlegruben versteckt hatten. Die Sorte, die man erst letztes Jahr entdeckt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Vierzig Jahre da unten in den Minen, sie haben sich vermehrt und entWikkelt. Es waren an die Hundert. Überlebende einer Gruppe, die nach dem Krieg unter die Erde gegangen ist.«

»In Schweden haben sie gerade eine neue Sorte entdeckt«, sagte die Kellnerin. »Ich hab darüber gelesen. Können Gedanken fernsteuern, hieß es. Es sind nur zwei. Der DCA war in Null Komma nix da.«

»Das ist eine Variante von dem Neuseeland-Typ«, sagte einer der Arbeiter. »Die können Gedanken lesen.« - Philip K. Dick, Der goldene Mann, in: Das Vater-Ding. Zürich 2000 (zuerst 1953)

Erzählen (7) Im Schlaf ging die mit dem Verlassen der Bahnhofsgaststätte unterbrochene Erzählung in mir weiter, jedoch, anders als im Wachen, unsanft, sprunghaft, zusammenhanglos. Sie schwang sich nicht mehr aus mir heraus, mit einem »Und«, einem »Dann«, einem »Als«, sondern verfolgte mich, hetzte mich, preßte mich, hockte mir auf der Brust, würgte mich, bis ich nur noch Wörter einzig aus Mitlauten hervorbrachte. Das schlimmste war, daß kein Satz zu seinem Ende kam, daß alle Sätze mittendrin abgebrochen, verworfen, verstümmelt, verballhornt, für ungültig erklärt wurden, und daß zugleich das Erzählen nicht aufhören durfte, daß ich, ohne Atempause, immer wieder neu anfangen, einen neuen Anlauf nehmen, einen neuen Ansatz finden mußte, daß ich zu diesem so wortreichen wie sinnlosen, keinen Sinn ergebenden, auch den am Tage bereits gefundenen Sinn im Rücklauf vernichtenden, entwertenden Rhythmus lebenslänglich verdammt schien. Der Erzähler in mir, eben noch wahrgenommen als der heimliche König, schuftete, ins Traumlicht gezerrt, dort als stammelnder Zwangsarbeiter, aus dem kein brauchbarer Satz herauskam, in der nur mit dem Tod zu beendenden Umklammerung der zum Ungeheuer aufgewachsenen Erzählung. - Peter Handke, Die Wiederholung. Frankfurt am Main 1992 (zuerst 1986)

Erzählen (8) Eines Tages sah ich in den Händen unseres Primus Mark Borgmann ein Buch über Spinoza. Er hatte es gerade gelesen und brannte darauf, die ihn umringenden Jungen über die spanische Inquisition aufzuklären. Es war ein hochgelehrter Vortrag, den er hielt. Bergmanns Worte entbehrten jeder Poesie. Mich hielt es nicht länger, und ich fiel ihm ins Wort. Allen, die es hören wollten, erzählte ich vom alten Amsterdam, vom Gettodämmer, von den Philosophen — den Diamantschleifern. Die Bücherweisheit bereicherte ich um viel Selbsterdachtes. Anders ging es bei mir nicht. Meine Phantasie steigerte die dramatischen Szenen, erfand neue Ausgänge, schürzte die Anfänge noch geheimnisvoller. Der Tod Spinozas, sein freier, einsamer Tod, wurde in meiner Vorstellung zur Schlacht. Das Synedrion wollte dem Sterbenden ein Reuegeständnis abzwingen, doch er ließ sich nicht brechen. Auch Rubens verwickelte ich in die Geschichte. Ich glaubte zu sehen, wie Rubens zu Häupten Spinozas stand und ihm die Totenmaske abnahm.

Offenen Mundes lauschten meine Klassenkameraden der phantastischen Erzählung. Ich hatte sie voll Feuer erzählt. Ungern trennten wir uns beim Klingelzeichen. In der nächsten Pause trat Borgmann auf mich zu, faßte mich bei der Hand, und wir schlenderten zusammen auf und ab. Es dauerte nicht lange, und wir verstanden uns. Borgmann war nicht so stur, wie Primusse meist sind. Für seinen gescheiten Kopf war die Gymnasialweisheit ein Gekrakel am Rande eines wirklich weisen Buches, nach dem er wie besessen suchte. Wir zwölfjährigen Grünschnäbel wußten längst, daß ihm ein ungewöhnliches Gelehrtenleben bevorstand. Auf den Unterricht brauchte er sich nicht vorzubereiten, ihm genügte es, ihn anzuhören. Dieser nüchterne, beherrschte Junge schloß sich mir an, weil ich die Gabe hatte, alle Dinge der Welt auf den Kopf zu stellen, die einfachsten Dinge, wie sie einfacher nicht sein konnten. - (babel)

Erzählen (9) Die Katze kam herüber und rollte sich neben mir zusammen, wobei sie mir ihren Kopf auf die Schulter legte, ein eher ungewöhnlicher Sympathiebeweis. Wir blieben eine Weile so liegen, aber ich konnte nicht einschlafen. Also erzählte ich ihr eine Geschichte.

Es gibt mehr Leute als man glaubt, die Tieren Geschichten erzählen und die Tiere nehmen mehr von diesen Geschichten auf, als die meisten Leute glauben. Vielleicht verstehen sie nicht alle Worte, aber sie nehmen den Ton wahr und die Klangfarbe und die Stimmung und ich glaube, sie erinnern sich auch an die Geschichte. Kinder hingegen erwarten, daß man ihnen Geschichten erzählt, also hören sie gar nicht richtig mit dem Herzen zu, was auch egal ist, weil diese Geschichten meistens sowieso nicht gut sind. Und die Kinder glauben oft, daß diese Geschichten nur für sie sind, aber das stimmt nicht. Es sind einfach nur Geschichten.

»Das ist eine Geschichte«, sagte ich, »aus einem Buch, das ich mal gelesen habe, mit dem Titel Von der Katze, die in den Himmel kam von Elizabeth Coatsworth. Ich glaube, es hat 1931 die Newbery Medal gewonnen. Auf jeden Fall hat es irgendeinen Scheiß-Literaturpreis gewonnen, entweder damals oder 1939, als Hitler gerade sehr erfolgreich und ich noch nicht mal geboren war. 1931 die Newbery Medal gewonnen zu haben, ist auch nicht das, was es mal war. Es ist wie zur Miss Spiritual Tramp 1948 gewählt worden zu sein. Oder Miss Texas 1987. Die Zeit vergeht und die Leute wollen wissen, was man seitdem so gemacht hat, und natürlich hat niemand in letzter Zeit was Vernünftiges gemacht. Die Männer sind zu sehr damit beschäftigt, vom Nachbarmädchen zu träumen, das sich, wenn es erwachsen ist, als Lesbe entpuppt, und die Frauen warten immer noch auf ihren Ritter in glänzender Rüstung, der sich als Investmentbanker mit einem zehn-Zentimeter-Schwanz herausstellt. Kannst du mir folgen?«

Die Katze hatte ganz klar angebissen. Sie lag entspannt auf dem Sofa und schaute mir in die Augen. - Kinky Friedman, Katze, Kind und Katastrophen. Berlin 2007 (zuerst 2002)

Erzählen (10) Hier — in seinen verschiedenen Formen — das Verfahren, das Roussel die Elemente lieferte, die er in seinen Prosaerzählungen verwendete:

1. Zu Beginn zwei bis auf ein Wort gleichlautende Sätze, mit doppelter Bedeutung anderer Substantive in beiden Sätzen. »Waren die zwei Sätze gefunden«, erläutert Roussel, »so ging es darum, eine Erzählung zu schreiben, die mit dem ersten Satz anfangen und mit dem zweiten aufhören konnte.«

Beispiel: Les vers (Gedichtzeilen) de la doublure (des Schauspielers, der für einen anderen einspringt) dans la pièce (dem Theaterstück) du »Forban talon rouge« und Les vers (Würmer) de la doublure (des Kleiderfutters) dans la pièce (dem genähten Stück) du fort pantalon rouge, die Grundlage der Erzählung »Chiquenaude«, die 1900 veröffentlicht wurde; sie war das erste Werk, das der Autor für befriedigend hielt nach der depressiven Krise, die der Mißerfolg des Romans »La Doublure« auslöste.

2. Ein doppeldeutiges Wort, durch die Präposition à mit einem zweiten doppeldeutigen Wort verbunden (sie wird das Verbindungsinstrument für zwei völlig heterogene Elemente, so wie die Kopula comme in der klassischen Analogie-Metapher zwei mehr oder minder homogene Elemente zusammenbringt).

Beispiel: Palmier (Kuchen, Baum) à restauration (Restaurant, in dem man Kuchen serviert; Wiedereinsetzung einer Dynastie auf einen Thron), ein Wortpaar, das in »Impressions d'Afrique« die Palme auf dem Trophäenplatz ergeben hat: sie ist der Wiederherstellung der Dynastie der Talou geweiht.

3. Ein beliebiger Satz, »den ich zerlegte und aus dem ich somit Bilder gewann, ein wenig so, als wäre es darum gegangen, daraus Rebus-Zeichnungen herauszuholen«.

Beispiel: Hellstern, 5, place Vendôme, die Anschrift von Roussels Stiefelmacher, entstellt zu hélice tourne zinc plat se rend dorne (»Schraube dreht sich, flaches Zink wird Kuppel«), was die Bestandteile eines Apparats ergibt, mit dem der ältere Sohn des Kaisers Talou hantiert. In den Werken Raymond Roussels, die nach dieser Methode ausgearbeitet sind, enthält das literarische Schaffen also ein erstes Stadium, das darin besteht, einen Satz (oder einen Ausdruck) mit doppelter Bedeutung hinzustellen oder aber einen fertigen Satz zu »zerlegen«; die einander gegenüberzustellenden und zu verarbeitenden Elemente werden durch diese zufälligen formalen Aspekte hervorgebracht. Nach dem Zwischenstadium — der Herstellung eines logischen »plots«, das diese noch so disparaten Elemente miteinander verbindet — kommt die Formulierung dieser Beziehungen auf einer möglichst realistischen Ebene, in einem Text, der mit einem Höchstmaß an Strenge abgefaßt ist, ohne andere Bemühung um Stil als die peinlichst genaue Anwendung der gebräuchlichen Regeln, wobei Konzision und das Fehlen von Wortwiederholungen unter den angestrebten Zielen an erster Stelle stehen. Diese Bemühung um äußerste Strenge bei der Ausarbeitung von Stücken, die weit von jeglichem Naturalismus entfernt sind — und das ist noch das mindeste, was sich darüber sagen läßt —, diese Bemühung erinnert entfernt an den witzigen Ausspruch des leider dahingegangenen Juan Gris, des rationalistischsten wie zugleich auch des größten kubistischen Malers: »Man muß ungenau, aber präzis sein.« - Michel Leiris, Konzeption und Realität bei Raymond Roussel. In: R.R. Eine Dokumentation. Hg. Hanns Grössel. München 1977

Erzählen (11) In einer Weise, die keine Technik lehren oder zustande bringen könnte, kondensiert die große Kurzgeschichte das Besessensein vom Ungeziefer, es ist eine halluzinierende Gegenwart, die sich mit den ersten Sätzen einstellt und den Leser bannt, ihn den Kontakt zur blassen Wirklichkeit, die ihn umgibt, verlieren läßt, und ihn in eine andere Wirklichkeit taucht, die stärker, überwältigender ist. Aus einer solchen Erzählung geht man hervor wie aus einem Beischlaf, erschöpft und außerhalb der einen umgebenden Welt, in die man nur allmählich zurückfindet, mit einem Blick der Verwunderung und des langsamen Wiedererkennens, oft erleichtert und noch öfter resigniert. Derjenige, der diese Erzählung schrieb, hat eine noch erschöpfendere Erfahrung gemacht, denn von seiner Fähigkeit, die Obsession in ein anderes Gefäß zu füllen, hing die Rückkehr zu einem erträglicheren Zustand ab; und die Spannung der Erzählung entstand aus dieser blitzschnellen Eliminierung der sich einschaltenden Gedanken, der Vorbereitungsphasen und der ganzen abgekarteten literarischen Rhetorik, handelte es sich doch um eine in gewissem Maße über das Schicksal entscheidende Operation, die keinen Zeitverlust duldete; da war das Ungeziefer, und nur wenn man schnell zuschlug, konnte man sich seiner entledigen. - (cort2)

Erzählen (12) Der Wuarsen fraß jede Nacht einen. Am siebenten Tage war ich nur noch ganz allein übrig. Als es Nacht wurde und wir gegessen hatten, sagte ich zu dem Wuarsen: »Wir wollen uns heute unterhalten. Wir wollen uns eine Geschichte erzählen. Soll ich erzählen oder willst du erzählen?« Der Wuarsen sagte: »Erzähle du! Wenn ich darüber einschlafe, mach du mit mir, was du willst. Wenn du darüber einschläfst, werde ich mit dir machen, was ich will.« Ich begann nun eine lange Geschichte zu erzählen. Ich erzählte und erzählte und erzählte. Der Wuarsen wurde immer müder. Als es Mitternacht war, war er so müde, daß er einschlief.

Ich erhob mich. Ich machte die Eisenstange ganz heiß. Ich machte sie glühend. Als sie glühend war, näherte ich mich dem schlafenden Wuarsen und bohrte ihm die glühende Stange in das eine Auge. Es machte: tschuch-tschuk. - Märchen der Kabylen. Gesammelt von Leo Frobenius, Hg. Hildegard Klein. Düsseldorf u. Köln 1967

Erzählen (13) Es bedeutet nicht, daß Watt nicht gewisse Dinge ausgelassen hätte, die geschehen waren oder dagewesen waren, oder daß er nicht andere Dinge hinzugefügt hätte, die nie geschehen waren oder nie dagewesen waren. Es ist bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen worden, denen Watt bei den Bemühungen begegnete, das, was in Mr. Knotts Haus geschehen war, von dem, was dort nicht geschehen war, und das, was dort gewesen war, von dem, was dort nicht gewesen war, zu unterscheiden. Und Watt machte bei seinen Unterhaltungen mit mir kein Hehl daraus, daß manche Dinge, die beschrieben worden waren, als wären sie in Mr. Knotts Haus und freilich auf seinem Grund und Boden geschehen, vielleicht überhaupt nicht geschehen waren, oder ganz anders, und daß manche Dinge, die beschrieben worden waren, als wären sie dagewesen oder vielmehr als wären sie nicht dagewesen, denn diese waren die wichtigsten, vielleicht nicht dagewesen waren oder vielmehr immer dagewesen waren. Aber abgesehen davon ist es für jemanden wie Watt schwer, eine lange Geschichte wie die von Watt zu erzählen, ohne einige Dinge auszulassen und andere hinzuzufügen. Und das bedeutet auch nicht, daß ich nicht einige der Dinge ausgelassen hätte, die Watt mir gesagt hatte, oder nicht andere hinzugefügt hatte, die Watt mir nie gesagt hatte, obgleich ich mir die größte Mühe gab, alles sofort zu notieren, in meinem kleinen Notizbuch. Es ist bei einer langen Geschichte wie der Geschichte, die Watt erzählte, selbst wenn man sich die größte Mühe gibt, alles sofort zu notieren, in seinem kleinen Notizbuch, so schwer, nicht einige der Dinge, die gesagt wurden, auszulassen, und nicht andere Dinge, die nie gesagt wurden, die überhaupt nie gesagt wurden, hinzuzufügen. - (wat)

Erzählen (14)  Wenn man jetzt enttäuscht sei, weil es sich für einen Moment so gut angelassen habe mit der Heimarbeit und der Revolution, dann sei man noch nicht weit genug vorgedrungen im Denken, denn das Denken lasse sich immer gut an und ende schon bald in Heulen und Zähneknirschen. Mit dem Erzählen sei es nicht viel anders. Sobald man versuche, mit Hilfe einer Erzählung einen Zusammenhang herzustellen oder etwas zu erklären, falle alles auseinander. Die Sagen, Märchen und Parabeln der alten Zeit funktionierten nur, weil man damals nichts habe erklären wollen. Man habe nur erzählt. Erst später seien diese Erzählungen dann als Handlungsanweisungen mißverstanden worden. Heute werde alles gleich als Handlungsanweisung mißverstanden, weshalb das Erzählen im strengen Sinne nicht länger existiere.  - (rev)

Erzählen (15)  Denken verwirrt die Gedanken, aber Erzählen klärt sie. - Luigi Malerba, Die nackten Masken. Berlin 1995
 
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