Es wird immer dunkler und so schwül. Blitze zucken, aber es donnert nicht. Jetzt pfeift es oben - so gellend wie Lokomotiven, die Angst haben vorm Tunnel. Und nun fliegen Hagelstücke runter, große Hagelstücke und kleine Hagelstücke. Sie sind nicht rund, sie sind zackig und kantig wie schlecht gehauener Zucker. Aber Zucker ist das nicht - es schmeckt kühl und herzhaft. Und nun fliegen Hagelstücke runter, große Hagelstücke und kleine Hagelstücke. Sie sind nicht rund, sie sind zackig und kantig wie schlecht gehauener Zucker. Aber Zucker ist das nicht - es schmeckt kühl und herzhaft. Und jetzt rauscht es oben in den Wolken. Die Wolken jagen blitzschnell vorbei. Ein Sturm wirbelt durchs Land. Die Bäume brechen ab, die Dachziegel fliegen mit Blumentöpfen, Menschenhüten und flatternden Krähen weit weg - ins freie Feld. Es hagelt dabei und regnet.
Der Regen schmeckt so kühl und herzhaft wie die Hagelstücke.
Da steckt was Seltsames drin in diesem Hagel und in diesem Regen.
Die Gelehrten fahren mit ihren Galakutschen aufs Rathaus und halten dort lange Reden; alle Gelehrten haben Hagelstücke in der Hand, einige haben noch Flaschen mit dem neuen Regenwasser.
Die Gelehrten reden ausgezeichnet, und währenddem hagelt's und regnet's draußen immer stärker. Und der Sturm heult - heult.
Im Rathause erklären die klugen Gelehrten, daß das kein gewöhnlicher Hagel sei - auch kein gewöhnlicher Regen. Und sie kosten alle von den Hagelstücken und trinken das Regenwasser.
Und sie sagen, da sei ein neuer Stoff drin - im Himmel müsse ein Komet geplatzt sein - es müsse ganz bestimmt ein Komet gewesen sein. Kometensalz ist der neue Stoff. Er wirkt nur so komisch.
Wer das neue Salz gekostet hat, dem zieht so was Weiches durch alle Glieder, und die Gedanken werden so einfach. Das Kometensalz ist verführerisch wie Alkohol. Das Kometensalz brennt aber nicht hinten im Munde und unten im Leibe, reizt nicht auf - es macht genügsam - still. Die Menschen, die das Salz im Magen haben, können bald ihre Gedanken nicht mehr sammeln. Es ist den Menschen, als ginge alles fort.
Und dann bleiben die Menschen stehen und gehen nicht weiter, ihre Glieder werden steif und hart wie Holz, und der erhobene Arm will nicht mehr runter; die Hand, die den Hut zum Grüßen zog, bleibt mit dem Hute oben in der Luft.
Allmählich verhallt der Sturm, und das Wetter wird wieder besser.
Beim hellen Sonnenschein merkt man aber erst den Umfang der ganzen Geschichte.
Zehn nasse Soldaten auf dem Übungsplatze vor der Kaserne stehen auf einem Bein kerzengerade, doch das andere hochgehobene Bein geht nicht runter. Eine Bäckersfrau stößt dem einen Soldaten in die Seite, und alle zehn fallen um wie hölzerne Soldaten aus einer Spielschachtel. Die Luft ist wieder still. Und die Menschen lecken an dem Kometensalz, das massenhaft die Erde bedeckt. Die Tiere lecken auch an dem Kometensalz.
Und dann bleiben die Menschen und die Tiere nach und nach sämtlich auf der Straße und in den Häusern in seltsamen Stellungen stehen - sitzen - oder - liegen. Den Hunden bleibt das Maul offen. Die Vögel überschlagen sich in der Luft, fallen mit steifen Flügeln auf die Salzhaufen und rühren sich nicht mehr. Ein Leichenzug steht vor einer Kirche und kann nicht weiter.
Die Bäume werden ebenfalls starr. Die Trauerbirken und die Trauerweiden verharren in Windstellung - mit weit weggewehten Ästen - als wütete noch immer der große Sturm. Und die Luft ist doch so still. Und die Menschen und Tiere sind auch so still, als wüßten sie gar nichts mehr zu sagen.
Ein Schutzmann sitzt auf einer Parkbank unbeweglich mit einem Strolch zusammen - sie sehen sich unablässig an. Ein Regiment dekorierter Nachtwächter befindet sich vor dem Rathaus in konstanter Präsentierstellung. Die Kinder sind in der Schule nicht mehr zu hören - so ruhig sind sie. Und im Rathause sitzen die Gelehrten wie Wachspuppen da. Der Bürgermeister, der das Salz nicht anrührte, schleppt sich müde nach Hause, trinkt im Sorgenstuhl vor seinem Schreibtisch ein Glas Wasser und sieht am Ofen seine Frau - sie ist unbeweglich wie ein abgeschiedener Geist.
Der Bürgermeister faßt sich an den Kopf und ruft plötzlich angstvoll: »Franziska!
Das ist die neue Zeit!« Aber er kann den Mund nicht mehr zumachen - das Salz
hat auch ihn gepackt - es war im Wasserglase. Das furchtbare Kometensalz ist
überall! In der Residenz sitzt der König auf seinem Throne und hält immerfort
das Szepter - regiert aber nicht — denn alle seine Untertanen sind so steif
wie er selbst. - Paul Scheerbart, Platzende Kometen. Aus:
In Laurins Blick. Das Buch deutscher Phantasten. Hg. Kalju Kirde. Frankfurt
am Main u.a. 1985 (zuerst 1982)
Erstarrung (2)
Erstarrung (3) Stellt euch,
ihr Menschen, etwas Unmögliches vor, etwas Absurdes, Verrücktes, Unglaubliches
und Furchtbares. Stellt euch vor, die ganze Welt würde an einem gewissen Punkt
plötzlich stillstehen und alle Dinge an dem Platz verharren, an dem sie waren,
und alle Menschen bewegungslos bleiben, fast wie Statuen, in der Pose, m der
sie im Moment waren, in der Handlung, die sie gerade vollzogen ... Wenn dies
geschehen und trotz allem der Gedanke im Menschen weiterleben würde, die Menschen
sich erinnern und urteilen könnten, was sie taten und was zu tun sie im Begriff
waren, und alles abwägen könnten, was sie vollbrachten seit ihrer Geburt, wenn
sie nachdenken wurden über das, was sie noch schaffen wollten vor dem Tod, stellt
euch die Verzweiflung unter dem tragischen Schweigen dieser plötzlich zum Stillstand
gebrachten Welt vor! Ich weiß nicht, ob ihr den Mut haben wurdet zu erfahren,
wie schrecklich das wäre. Strengt euch für einen Augenblick an und stellt euch
diese erstarrten Menschen vor, während sie ihre Arbeit taten, keuchend ihren
Träumen folgend, gehetzt von ihren schmutzigen Leidenschaften, roh umhergestoßen
von ihren Begierden. Seht ihr sie dort, auf der Welt verstreut, erstarrt durch
eine Katastrophe, die sie in denkende Puppen und verzweifelte Statuen verwandelt
hat. Schaut sie euch an in den ekelhaftesten Stellungen
oder in den lächerlichsten, den anstrengendsten und den dümmsten. Hier der Mensch,
überrascht im tiefsten Schlaf mit halbgeöffnetem Mund wie eine besoffene Leiche,
hier der Mensch im Liebesakt, über der Frau mit geschlossenen Augen hegend wie
ein keuchendes Tier; hier der Mensch, der in der Dämmerung
stahl mit seinen falschen Augen und der Lampe, die nie mehr erlischt
— hier der schwarzgekleidete Richter, der von seinem hohen Richterstuhl aus
die Hölle und das Blut verspricht — hier der Erbärmliche, der sich im Sumpf
der Stadt bewegt auf der Suche nach einem Knochen oder einem Groschen — hier
die Frau mit weiß gepudertem Gesicht und kokett zurückgeneigter Schulter, die
lüstern lächelt — hier der Kaufmann mit den knöcherigen Händen, die in der Luft
fuchtelnd um zehn Groschen mehr feilschen — hier der atemlose Bauer, der mit
der Peitsche die bewegungslosen Ochsen bedroht — hier der elegante Redner, der
mitten im Lächeln und einem Kompliment innehält — und der Soldat, der mit aufgepflanztem
Bajonett vor verschlossener Tür steht, und der Mörder, der im Speicher versteckt
tödliche Gifte mischt — und der verschlafene Arbeiter, gebeugt über riesenhafte,
bewegungslose und finster ölige Maschinen — und der Wissenschaftler, der seine
müden Augen nicht loslösen kann vom Mikroskop, unter dem die unsichtbaren Ungeheuer
ihre Tänze unterbrochen hatten... Stellt euch nun, wenn ihr beherzt seid, die
Gedanken dieser Menschen vor, die alle im gleichen Augenblick verurteilt sind,
sich ihres Todes bewußt zu werden. - Giovanni Papini, Der Spiegel auf der Flucht. In. G.P., Der Spiegel auf der Flucht (Spiegelfluchten).
Stuttgart 1983.
Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges
Erstarrung (4) Ob
das Liebenswürdige je wiederkehrte? Eugen meinte, dies sei unwahrscheinlich.
Als ob Nerven erstarrt wären, Nerven, die das Lächeln
hervorriefen und empfindlich waren für Dazwischenliegendes. Zwischentöne vielleicht
... obwohl dies auch nicht stimmte. Jedenfalls erschien ihre Empfindungsfähigkeit
herabgemindert. Abgestumpft durch allzu starke Erregungen, war sie zurückgesunken
in eine dumpfere Welt. Ihre Empfindungen hatten sich vergröbert, während ihr
Verstand vielleicht sogar wacher geworden war, weil ihn jetzt keine Gefühle
mehr trübten. Ihre Gesichtshaut erschien stumpf und gröber als zuvor. - Hermann Lenz, Seltsamer Abschied. Frankfurt
am Main 1990
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