- Fit! 4 / 2004 (DAK)
Ersatz (2) Der Mensch, der biogenetisch dem Wurm näher steht als etwa dem Affen, hat bei sich nicht die Fähigkeit entwickeln können, zu fliegen, weil die Zwischenstufe der Larve, der Verpuppungsprozeß, der im Lebenskern noch bei allen Insekten zu finden ist, verkümmert und unterdrückt ist. Statt dessen hat sich in der Bewußtseinsbildung der Intellekt geformt, mit dem das Menschenwesen einige Jahrtausende überstanden hat, ein Ersatz und gewissermaßen auch ein biologischer Schutz, der heute bereits wieder in der weiteren Perspektive dem Nachstoß des Instinkts, einem Vulkan vergleichbar, wird weichen müssen.
Der Insekten-Typ im Menschen ist ungenutzt geblieben. - Aus: Franz
Jung, Erinnerung an einen Verschollenen. Ernst Fuhrmanns
Lehre von den Zusammenhängen. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen
/ Frankfurt am Main 1981
Ersatz (3) Anregend waren Diskussionen. Ob Jazz Kunst
sei? Ob der Schlager als Volkslied unserer Zeit bezeichnet werden könne? Ob
Jugendliteratur nach K. May überhaupt noch möglich sei? »Ich bin nicht für die
Nazis!« ereiferte sich Föthes. »Aber wenn man uns schon eine Weltanschauung
nimmt, dann soll man uns dafür auch eine wiedergeben.« - Walter Kempowski, Im Block. Frankfurt am Main 1972 (zuerst 1969)
Ersatz (4)
Ersatz (5) Was bleibt für einen braven Antialkoholiker und eingeschworenen Junggesellen übrig, der seinem stagnierenden Leben eine frische Wellenbewegung angewöhnen möchte? Die Ehe soll ja wohl eine Art Hafen sein; und Hubert Knötzel wollte im Gegenteil auf die hohe See hinaus und ahnte nicht, daß die Ehe in der Tat mehr dem aufgeregtesten Ozean mit einer Menge Wasserhosen, Taifunen, Klippen, Haifischen und Seekrankheiten gleicht; daß sie ein von kurzen Waffenstillständen unterbrochener Krieg zwischen Weib und Mann um die Herrschaft ist. Wie gern würde Hubert geheiratet haben, hätte er sich davon die richtige Vorstellung gemacht!
Ja, was blieb ihm übrig? In einem Kegelklub hielt er es mit Mühe zwei Abende aus. Dann geriet er ans Glückspiel und gewann beträchtliche Summen, die er dann wieder verlor, ohne daß weder der Gewinn noch der Verlust seine Temperatur alterierte. Jetzt versuchte er noch einige Zeit den Strudel des Gesellschaftslebens; ohne anderen Erfolg als den einer geradezu fürchterlichen Langenweile. Desgleichen ließ ihn jede Arbeit mächtig kalt. Und zugleich wurde das Bedürfnis nach Anregung immer lechzender, bis er fast verschmachtete. Da kam er dicht in die Nähe des Selbstmordes und wollte wenigstens eine möglichst erregende Todesart wählen. Er beugte sich aus dem Fenster, hielt eine Dynamitbombe im Mund und war im Begriff, sich hinabzustürzen und in Atome zu zerstäuben. Schon empfand er endlich die auspannendste Sensation und fühlte sich gleiten und sein Gleichgewicht verlieren — da!
Da entfiel die Bombe seinem Mund, explodierte unten und beschädigte zwar
kein Menschenleben, riß aber vom gegenüberliegenden Hause die Mauer so radikal
weg, daß die Eingeweide bloßlagen, und nichts Geringeres sichtbar wurde als
das vom Liebesbetrieb wimmelnde Innere eines Bordells. Während man den verhafteten
Knötzel an diesem Hause vorbeifuhr (er hatte vergessen, sich das Leben zu nehmen),
leerten etliche Dirnen ihre gefüllten Kübel über die Polizeikutsche aus, und
Knötzel atmete auf, ein Wonnegruseln rieselte über seinen Rücken. Man darf nicht
etwa glauben, er spürte irgendwelchen sexuellen Kitzel; auf diesen Verdacht
kommen nur schlechte Psychologen (oder gar Freudianer).
Nein, Knötzels erster Gang nach seiner Enthaftung war: ins selbe Bordell, und
dort trank er, man kann es nicht anders nennen, eine Dirne nach der andern sorgfältig
aus und begann wieder bei der ersten, wenn er mit der letzten fertig geworden
war. Der Sinn seines Lebens war entdeckt, und zwar bestand er, wohl zu merken,
nicht in Akten der Wollust, keineswegs in geschlechtlichen Beziehungen; sondern
diese dienten nur einem Antialkoholiker, Antimorphinisten und -kokainisten als
Surrogate für Schnaps usw. Daß er das Bordell dem Kegelklub vorzog, war lediglich
eine Aussage seines besonderen Geschmacks, er fand
es eben anregender. - Mynona, Das Eisenbahnunglück.
Hamburg 1988 (zuerst 1925)
Ersatz (6) La Sorcière von Michelet ist
eine geniale Sichtweise dessen, was im mittelalterlichen Europa die Hexerei
war: eine Möglichkeit für die kleinen Leute, in einer imaginären Welt einen
Ersatz für das erniedrigende Leben zu finden, das die Großen ihnen aufzwangen.
Eine Sichtweise, die mich um so mehr hätte ansprechen müssen, als ich in Abessinien,
wo ich mich kurz vor dem Erwerb dieses Buchs befand, aus unmittelbarer Nähe
Fälle weiblicher Besessenheit gesehen hatte, die
bei den betroffenen Bäuerinnen überwiegend einem Rachewunsch
zu entspringen schien, der sich auch hier auf einer imaginären Ebene befriedigte,
wo sie der Herrschaft der hochmächtigen Herren, die ihre Ehemänner für sie waren,
entgingen. - Michel Leiris, Die Spielregel I. Streichungen. München 1982
(zuerst 1948)
Ersatz (7) Das süße Ding trug auf dem ganzen Wege
Leuchter und Kerze in der Hand, damit sie auf dem Heimweg die Treppen
hinauffinde, zumal sie die Nacht Engert versprochen hatte. Sie erzählte mir das ganz
arglos und mit vielem Bedauern darüber, daß ich nicht imstande bin, meine
Pflicht zu tun. Sie könne unmöglich so lange allein schlafen. Daß es grade
Engert sein sollte, war mir sehr fatal. Aber wer will den Weibern ihren
Geschmack vorschreiben? -
Erich Mühsam, Tagebucheintrag vom 7. Mai 1911
Ersatz (8) Diese Sache, sagte Elisabella, du kannst sie Vögeln oder anders nennen, ist eine Staatsangelegenheit geworden, ein Unternehmen wie das von Christoph Kolumbus, der ins Meer sticht. Jetzt langt es, wenn das so kompliziert ist, laß mich in Ruhe, ich ziehe mich an und gehe. Sie sagte, ich gehe und dabei blieb sie und fuhr fort zu rauchen. Fast hätte ich Lust, sagte der Boß, wozu? Zum Glück bin ich kein Mörder und auch kein Triebverbrecher, sonst hätte ich dich schon längst umgebracht. Er kam manchmal auf Gedanken, auf die man überhaupt nicht kommen sollte. Und jetzt will ich dir sagen, sagte er, was du in deinem Fall tun kannst. Du kannst zum Beispiel eine Kerze verwenden, eine von den großen für die Kirchen oder auch farbig. Oder ein Coca-Cola-Fläschchen, das man umgekehrt verwendet, eine Spezialität der Amerikanerinnen. Auch eine Glühbirne von hundert Watt oder einen Besenstiel aus plastifiziertem Holz. Eine Gurke oder eine Banane, einen Quirl, um Eier zu schlagen, oder eine Rolle Glaspapier, weißt du, das Glaspapier ist in Sachen Reibung nicht übel.
Es gibt fast so viele Möglichkeiten wie Gegenstände, die durch das Tor des Hauses gehen können. Zur Vereinfachung auch der Zeigefinger der Hand oder der Zeigefinger und der Mittelfinger miteinander gepaart oder auch die ganze Hand. Man kann auch gewisse Tiere verwenden, einen lebendigen Aal, der seinen Kopf im Haus drinnen bewegt, wie das manche venezianische Damen gern haben, oder auch einen Kabeljau in der dir passenden Größe, du mußt ihn vor der Verwendung nur in Salzwasser aufbewahren, damit er zuckt und schnellt. Auch eine römische Kanalratte, die mußt du aber zuerst desinfizieren.
Es gibt auf jeden Fall tausend Möglichkeiten, wenn du so scharf bist. Der
Obelisk von der Piazza Navona oder die anderen römischen
Obelisken. Den von Axum könntest du zum Beispiel benutzen, bevor sie ihn dem
Negus zurückgeben. Und auch die Glockentürme der Kirchen, jener von Santa Maria
delFAnima, dessen Ende so spitz wie ein Nagel ist, oder auch die antiken Säulen,
die zu Hunderten in den antiken römischen Foren stehen. Elisabella lachte, lach
nur meine Liebe, ich habe dich gesehen, als wir auf der Piazza Navona auf und
ab spazierten, du hast den Obelisken auf dem Brunnen mit weit aufgerissenen
Augen betrachtet, ganz benommen von dieser Masse von rosa Granit. -
(
prot
)
Ersatz (9) Es war Weihnachten, der 1. mai. Vom himmel fielen männer aus schnee und tonnen voll donner. Über der welt schwebten die drei letzten kalfaterten herzen: die freiheit, die gleichheit, die brüderlichkeit. Es war der letzte tag des neuen jahres. Der baum des idealismus, jener sentimentale baum, in dem die nester der materialistischen philosophen schaukelten, wurde plötzlich durch einen einzigen heliumdonner zerschmettert.
Die menschen hatten sich in gedünstete zwiebeln
verwandelt, mit einem zahnstocher zwischen den zehen und einer fahne mit heiligen
farben im rechten knopfloch des linken hosenbeins. Zehn minuten später waren
die menschen verschwunden, und die letzte frau
kaute ihre orientalischen pillen: sie sass auf den tasten des höchsten gebirges
der welt. Sie hatte eine gewisse ähnlichkeit mit der Arche Noah, obgleich ihr
bart ein wenig länger war und ihr täuberich ein wenig kürzer. Immerhin trug
sie im schnabel ihres schiefen blickes einen wunderschönen ölzweig. (Dieser
ölbaum ist heute die krawattennadel der fachlichen kurzschlüsse geworden.) Wie
der leser gewiss verstanden hat, ist der mensch vom antlitz der erde verschwunden,
und statt seiner können wir das hermaphrometallkörperchen sehen — schlank und
elegant — nicht breiter als das halbe ohr des abend-angelus, auch nicht länger
als der meridian von Greenwich um 6.40 am tage. Dieses wesen — elegant und schlank
— ist vollkommen standardisiert und man kann es für zwei francs fünfzig in allen
gut sortierten laden kaufen. Sein individueller umfang überschreitet fünfundzwanzig
kubikzentimeter nicht. Wenn sein atem etwas über dieses maass hinausgeht, so
faltet es ihn doppelt oder dreifach, je nach den umständen. - Hans Arp,
Vicente Huidobro: Rettet eure Augen. Posthistorische Novelle. Nach (
huarp
)
Ersatz (10) Martin
Guerre, ein Bauer, kehrte nach neunjähriger Abwesenheit in sein Dorf
zurück. Er hatte sich, ohne etwas zu sagen, den Soldaten angeschlossen,
aber nach der Rückkehr machte er seine Schuld bei der Ehefrau, dem Kind
und den Nachbarn, die er im Stich gelassen hatte, wieder gut. Nach einiger
Zeit kamen jedoch Gerüchte hinsichtlich der Identität der Person auf, die
zurückgekehrt war. Der Heimkehrer schaffte es, diese Zweifel zu zerstreuen,
bis er durch die Rückkehr des echten Martin Guerre widerlegt wurde, der
den anderen für einen Betrüger erklärte. Der Schwindler wurde aufgehängt,
obwohl er die Rolle von Guerre wesentlich sympathischer als der wirkliche
Guerre ausgefüllt hatte. - Nach: Robert Shapiro, Der Bauplan des Menschen.
Frankfurt am Main 1995 (it 1709, zuerst 1991)
- Charles M. Schulz, Good ol' Snoopy. London 1968
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