rlebnis Ratlos und in vorurteilende Probleme verfangen, ging ich blindlings voran, durch Ausschließungen den Weg austastend, der meinen Bestrebungen am besten gerecht würde, als mir ein Erlebnis zustieß, das nur durch die Hinnähme dieser Bezeichnung schon seltsam zu nennen ist, denn mein Leben war strengstens und peinlichst leer von Erlebnissen. Während ich müßig in den Seiten einer Lokalzeitung blätterte, geschah es mir, daß meine Augen, die immer das nur angedeutete, aber deshalb nicht minder verhaßte Getöse der Weltereignisse mieden, sich in die einzige Rubrik flüchteten, die mir wegen ihrer nüchternen Rhetorik lieb war, wegen der würdigen Gelassenheit und sanften, wissenden Heuchelei: die Todesanzeigen.
Aufgereiht in schöner Ordnung, am Rande der von Ereignissen überfüllten Seite, verleihen sie mir die ruhige Gewißheit, daß die Abwesenheit, das Nichts - oder wie man es begreifen muß - die Lüge schließlich die Übermadht gewinnen wird. Einzig diese vorgeformten Wendungen, deren strenge, kanzleihafte Verlogenheit der Seelenpein nidit nachstehen, deren Schmach sie verdek-ken; diese lispelzüngige Beredsamkeit bestrickt mich wie die hinfällige, infantile Liturgie einer leicht idiotischen Religion. Während ich also diesen frostigen Katalog überflog, das Verzeichnis jener eiligen, mit ihrem gehörigen Schweißtuch bemäntelten Toten, frisch von unaufrichtigen letzten Grüßen verabschiedet, der Anonymität zustrebend, fiel mir einer sogleich ins Auge. Ich las: Plötzlich und unerwartet wurde uns das vertrauensvolle Herz unseres Federico H. entrissen: den Verwandten und Freunden mitgeteilt von der gebrochenen Gattin A., der weinenden Tochter E.; der schwerbetroffenen Schwester T. Dann folgten in dürren und sachlichen Worten die üblichen Angaben der Zeremonien: gewiß von andrer Hand hinzugefügt.
Streng genommen war dies keine gänzlich ungewöhnliche Anzeige; und dennoch ahnte man in dieser Botschaft etwas Unwahrscheinliches: ein Zuzwinkern, eine listige Vertraulichkeit, den kryptischen Rückstand eines nur wenigen Eingeweihten und Vertrauten verständlichen >bon mot<; eine in der Botschaft verschlossene Botschaft: fast ein Spiel.
Diese Adjektive: die den üblicherweise gebrauchten beinahe entsprachen, aber
genau genommen, doch nicht ganz. Allein dieses »vertrauensvolle« Herz. Für gewöhnlich
sind diese Herzen »edel«, »großmütig«, manchmal »gütig«; konnte also dies »vertrauensvolle«
nicht vielleicht eine Anspielung sein, verbarg sich darunter nicht ein Spott,
ein Hohn, ein übler Streich? Ich hätte jedoch nicht sehr auf dieses Wort geachtet,
hätten mich nicht die drei nachfolgenden unterschiedlichen Aufmachungen tiefer
aufgestört durch die hintersinnige Rhetorik, mit der man die drei Schmerzensgrade
der drei Frauen bezeichnete, die unterschiedlich beraubt waren. »Gebrochen«,
»weinend« und »schwergetroffen«: das war doch hartnäckiger Wortluxus, war Leichen-Luxus-Lautmalerei,
oder aber entschlossener und wachsamer Wille jeder einzelnen von ihnen, Nutzen
zu ziehen aus einem eigenen, unverwechselbaren Schmerz? War es also Absonderung
oder zusammenstimmende Unstimmigkeit? Waren die drei Frauen Abgeordnete für
drei verschiedene aber kongruente und verbundene Momente der Bestattungsfeierlichkeit?
Oder reklamierte stattdes-sen jede von ihnen mit zeremoniellem Zorn ein eigenes
unersetzbares und unverzichtbares Besitzrecht auf diesen Leichnam? Oder drehten
sie sich in einem nur ihnen verständlichen Reigen, vielleicht von versteckter
Fröhlichkeit und zweifellos üppig und reich? Wollte man andeuten, wie diese
drei verschiedenen Schmerzensarten, ähnlich den tränenreichen Gestalten am Fuß
des Kruzifixes, sich verschränkten zum Muster eines Unisono von selten harmonisch,
glücklich gelungener, »schöner« Trauer? Und um welche Art von glücklichem Gelingen
handelte es sich dann? Keine Spur davon war auszumachen in den Worten der widerspenstigen
Wendungen, der toten Formularsprache, welche die abgedroschene Beredsamkeit
der Grabsteine vorwegnimmt. Es zeigte sich darin vielmehr die Andeutung hochmütiger
Versumpfung. Warum denn, so fragte ich mich, war eine der Frauen, die Ehefrau,
»gebrochen« (als sei sie quasi am Ende einer langen, gekünstelten Anstrengung,
einer nunmehr fast hoffnungslosen Mühe, oder einer erschreckenden Entdeckungsfahrt
angelangt; die Schwester »schwerbetrorfen« (quasi als Zuschauerin einer eher
überraschenden oder grotesken oder beleidigenden, als trauervollen Katastrophe),
wohingegen die letzte »weinende« (quasi gezwungen oder gedrängt, aus ihrer armen
und infantilen Trauerfunktion ein Traueralmosen herauszuholen, eine ungelenke
Erlaubnis zum Leiden, ein paternalis tisch es Stipendium zum Studium von Leichenbegängnis
und Geschluchze)? und dieses »plötzlich und unerwartet« war eine schulmeisterliche
Geziertheit oder eine erklärerische Anmerkung - zu einem Schwank oder zu einer
Tragödie? Ein Tritt in den Hintern oder ein Messerstich? - Giorgio Manganelli, Omegabet. Frankfurt am Main
1988 (zuerst 1969)
|
||
|
|