rgriffenheit
Sie krochen auf allen vieren, und es war Vormittag und ein Menschengewimmel,
anscheinend hatten die Mädchen vergessen, daß sie
in einem Schaufenster waren, alle Augenblicke kratzten sie sich das Gesäß oder
irgendwas anderes, und dann kamen sie wieder zur Schaufensterscheibe gekrochen,
mit ihrem Hämmerchen und in Pampuschen, und sie lachten, daß ihnen die Tränen
kullerten, und die eine prustete los, und die Nägel sprudelten ihr aus dem Mund,
und sie wieherten auf allen vieren und knurrten sich in mädchenhaftem Übermut
an wie die Hunde, und ihre Blüschen standen ab, und man sah ihre Brüste, und
diese Brüste wippten, da die Mädchen auf allen vieren liefen, hin und her, im
Rhythmus ihres glücklichen Lachens, und vor dem Fenster standen schon lauter
Leute und starrten auf die vier Brüste, die schaukelten wie Glocken im Hauptfenster
eines Turmes, und dann guckte eine von beiden die Leute an, wurde ernst und
hielt sich die Arme vor und wurde rot, und als die zweite sich aus ihren Lachtränen
freigeschwommen und die erste auf die Ansammlung vor der Firma gezeigt hatte,
da erschrak sie so sehr, daß sie, den Ellenbogen gegen ihr Blüschen gepreßt,
das Gleichgewicht verlor, auf den Rücken fiel und die Beine spreizte und alles
den Blicken freigab, wenn auch unter modernen Spitzenhöschen verborgen, und
sosehr die Leute auch gelacht hatten - dieser Augenblick stimmte sie ernst,
manch einer ging weg, andere blieben stehen und starrten immerzu ins Fenster,
obwohl Mittag längst vorüber war und die Dekorateurinnen längst beim Essen im
Goldenen Prag saßen, bei uns; so ergriffen von der Schönheit der Dekorateurinnen
standen die Leute da, obwohl die Hausgehilfen schon das Rollo herabgezogen hatten,
so sehr vermag die Schönheit eines Mädchenleibes den Menschen zu ergreifen ...
- Bohumil Hrabal, Ich habe den englischen König bedient.
Frankfurt am Main 1990 (zuerst 1971)
Ergriffenheit (2) Ich sehe plötzlich die Jungfrau Maria, vor Sanftheit strahlend, mir die Hände entgegenstrecken. Sie ist es ohne Frage. Sie spricht zu mir finsterem Ungläubigen mit unvorstellbarer Sanftheit, eingehüllt in eine Schubert-Musik, die ich ganz klar höre. In La Voie lactée (Die Milchstraße) wollte ich dieses Bild rekonstruieren, aber es fehlt ihm da die Kraft der unmittelbaren Überzeugung, die es in meinem Traum hatte. Ich knie nieder, meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich fühle mich plötzlich vom Glauben erfaßt, einem brennenden und unwiderstehlichen Glauben.
Als ich erwachte, brauchte ich zwei oder drei Minuten, bis ich mich wieder gefaßt hatte. Auf der Schwelle zum Wachwerden wiederholte ich immer noch: „Ja, ja, heilige Mutter Maria, ich glaube." Mein Herz schlug sehr stark.
Bleibt noch hinzuzufügen, daß dieser Traum einen ausgeprägt erotischen Charakter
hatte. Eine Erotik, die sich in den keuschen Grenzen platonischer Liebe hielt,
versteht sich. Vielleicht, wenn der Traum länger gedauert hätte, wäre diese
Keuschheit verschwunden und hatte einem wirklichen Verlangen Platz gemacht.
Ich kann es nicht sagen. Ich fühlte mich einfach ergriffen, im Herzen angeführt,
von Sinnen. Ein Gefühl, dem ich im Lauf meines Lebens immer wieder begegnet
bin, und nicht nur im Traum. - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am
Main 1985
Ergriffenheit
(3) Wenn ein Pianist auf dem Podium mit Chopin
loslegt, sagt ihr, der Zauber Chopinscher Musik in der kongenialen Interpretation
des genialen Pianisten habe die Hörer bezaubert. Doch vielleicht ist in Wirklichkeit
keiner der Zuhörer bezaubert worden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß, wenn
sie nicht gewußt hätten, daß Chopin ein großes Genie ist und der Pianist gleichfalls,
sie dieser Musik mit weniger Inbrunst zugehört hätten. Ebenso möglich ist es,
daß, wenn jeder von ihnen blaß vor Begeisterung bravo klatscht, schreit und
sich windet, so nur darum, weil andere auch schreien, sich winden; denn jeder
von ihnen denkt, daß die anderen einen unerhörten Genuß, eine überirdische Ergriffenheit
erleben, woraufhin auch seine Ergriffenheit wie auf fremder Hefe wächst; und
so kann es leicht geschehen, daß, obwohl niemand im Saal unmittelbar entzückt
worden ist, sich dennoch alle äußerlich verzückt zeigen, weil jeder es seinem
Nachbarn gleichtut. Und erst dann, wenn alle zusammen sich in der Masse
gegenseitig gehörig erregen, erst dann, sage ich, rufen diese Anzeichen Ergriffenheit
in ihnen hervor - denn wir müssen uns unseren Anzeichen anpassen.
- (fer)
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