ntzifferung
Vor fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höheren Sechsecks der
Bibliothek auf ein Buch, das so verworren war wie die
anderen, das jedoch fast zwei Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte
seinen Fund einem wandernden Entzifferer, der ihm sagte, sie seien in Portugiesisch
abgefaßt; andere sagten dagegen, in Jiddisch. In weniger als einem Jahrhundert
konnte die Sprachform bestimmt werden: Es handelte sich um eine samojedisch-litauische
Dialektform des Guaraní mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch der
Inhalt wurde entschlüsselt: Begriffe der kombinatorischen
Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt
wiederholender Variationen. Diese Beispiele erlaubten es einem genialen Bibliothekar,
das grundlegende Gesetz der Bibliothek zu entdecken. Dieser Denker stellte fest.
daß sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch seien, aus den gleichen Elementen
bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets.
Auch führte er einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt haben: In der
ungeheuren Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen
Prämissen folgerte er, daß die Bibliothek total ist,
und daß ihre Regale alle irgend möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel
orthographischen Zeichen (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß, nicht
unendlich ist) verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken läßt: in
sämtlichen Sprachen. Alles: die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiographien
der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende
falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit
des echten Katalogs. - J. L.
Borges
, Die Bibliothek von Babel, In:
J.L.B.,
Blaue Tiger und andere Geschichten. München 1988 (zuerst 1941)
Entzifferung (2)
Entzifferung (3)
Entzifferung (4) Sein Kollege Dr. Dr. Steinwender,
bekannt durch Grabungen in Zentralasien, sandte dem Gelehrten Dr. Niegenug und
seiner reizenden Frau Hella zu Neujahr 196* folgende Zeilen:
Lieber Schildgenosse! Südlich von Sarnarkand fand ich im letzten Frühjahr
die Reste der ehemaligen Hauptstadt Eboriens, und wir haben mit der Entzifferung
der reichen Hieroglyphenfunde begonnen; aber ohne Deine wertvolle Mitarbeit
sind wir natürlich aufgeschmissen. Bitte sei so gut und versuche Dich an den
Funden, von denen ich Dir gleich - um Dir einen Begriff zu geben - eine typische
Weihe-Inschrift übersende. Dein St.
Darunter hatte Dr. Dr. Steinwender die geheimnisvollen Schriftzeichen gesetzt:

Verdutzt starrte Niegenug auf die sonderbaren Ideogramme. Von vornherein
war ihm klar, daß sie dem Sprachdukrus des Eborischen völlig fremd waren. Aber
nach einer Minute schmunzelte er, nach dreien lachte er hell auf. Er hatte entdeckt,
nach welchem Bauprinzip diese Wortgebilde komponiert waren. Er setzte sich an
den Schreibtisch und warf folgende Botschaft auf eine Postkarte:
Lieber Steinschwindler! Ja, willst Du einen Profi zum besten haben -oder,
um es auf Eborisch auszudrücken,

Wie, so lautet die Frage an den Leser, ist die Botschaft des Dr. Dr. Steinwender
zu lesen? - Carl Amery, nach: Willy Hochkeppel,
Denken als Spiel. München 1973 (dtv 965)