ntwurzelung
Aus mir spricht die Zersetzung, wurde mir öfter
erwidert. Nein, antwortete ich, solange ich noch antwortete, aus mir spricht
der abendländische Geist, der ist allerdings die Zersetzung; des Lebens und
der Natur, ihre Zersetzung und ihre Neusetzung aus menschlichem Gesetz, jenem
anthropologischen Prinzip, das die Wasser von der Feste schied und die Propheten
von den Narren. Wie denn, sagten meine Gegenüber, also doch. Sie wollen die
Natur zersetzen, das ist die Höhe! Unser aller Blut und Boden? Ihre Natur, mußte
ich erwidern, ist sie denn natürlich? Kann man von ihr ausgehen? Ich kann beweisen,
daß sie unnatürlich ist, äußerst sprunghaft, ja, daß sie der Schulfall des Widernatürlichen
ist. Sie setzt an und läßt liegen, macht Aufwand und vergißt. Sie ist zügellos
und übertreibt mit massierten Fischzügen bei den Lofoten, mit Heus ehr eckensch
wärmen, die sie vorwälzt, und mit Zikaden. Oder es ist Friede auf der Erde,
alles hat die Temperatur der Steine, man kann sich wahrhaft mit dem Klima befassen,
plötzlich taucht der Aaronstab auf mit 40° Celsius in seiner Blütenhülle, alles
ist aufgestört und die Götter wollen Warmblüter -: geht das von der Natur aus
oder von wem? Oder Faltelung, Verdichtung, unausdenkbare Konzentration ist eine
ihrer Methoden, ist das eine einfache und natürliche Methode? Oder Transport
immenser Spannungen auf mikroskopisch kleinstem Raum ist eine ihrer Anwandlungen - ist nun diese gang und gäbe? Das
Leben als Erscheinung war doch überhaupt in der Pflanze gut untergebracht, warum
es in Bewegung setzen und auf Nahrungssuche schicken - ist das nicht vielleicht
ein Vorbild von Entwurzelung? Die menschliche Kreatur vollends wälzt sie doch
geradezu in die Unnatur, schleudert Bakterien heraus, um sie zu vernichten,
verringert ihr den Geruch, mindert ihr das Gehör, das Auge muß sich durch Gläser
denaturieren, der Mensch der Zukunft ist reine Abstraktion - wo wirkt sie, die
natürliche Natur? Nein, es drängt sich überall ein anderes Gesicht hervor, in
den Steinen schlafend, in den Blumen blühend. - Gottfried Benn, Weinhaus
Wolf. In: G. B.,
Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962
Entwurzelung
(2) Andere zu entwurzeln, ist das ärgste der Verbrechen
- sich selber zu entwurzeln, die größte Errungenschaft. - Peter
Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1984
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