ntwöhnung    Seine Mutter  setzte ihre Bemühungen um sein Seelenheil eifrig fort, allerdings — nach seinem Dafürhalten — auf untaugliche Art. «Der Sonntag», sagte er, «war in meiner Jugend ein trauriger Tag für mich. Meine Mutter sperrte mich jeweils ein und hieß mich ,Die vollständige Menschenpflicht' lesen, ein Erbauungsbuch, dem ich nichts abgewinnen konnte. Mit neun Jahren kehrte ich mich überhaupt nicht mehr an religiöse Dinge.»   - (johns)

Entwöhnung (2)   Seine Mutter durchschnitt die Nabelschnur mit einer scharfen Muschelschale und drückte seinen Kopf an ihre kupferfarbene Brustwarze. Zwei Jahre lang war die Brustwarze der Mittelpunkt seiner Welt. Er begleitete sie überallhin: zum Fischen, zum Beerensammeln, beim Kanufahren, bei Verwandtschaftsbesuchen, und sie war auch bei ihm, als er die Namen für alles, was schwamm, sproß, kraulte oder flog, lernte, Namen, die so komplex und präzis waren wie das Linnésche Latein.

Eines Tages schmeckte die Brustwarze schrecklich, weil seine Mutter sie mit ranzigem Walfischtran eingerieben hatte. Sie sagte ihm, er solle von nun an mit Jungen seines Alters spielen, denn er könne ja jetzt ein Seehundsteak kauen. An diesem Punkt übernahm der Vater die Erziehung des Jungen und zeigte ihm, wie Kormorane erdrosselt, Pinguine erschlagen, Krabben erstochen und Seehunde harpuniert werden. Der Junge hörte jetzt von Watauineiwa, dem Alten Mann im Himmel, der sich nie veränderte und dem jede Veränderung ein Greuel war; und von Yetaita, der Macht der Finsternis, einem behaarten Ungeheuer, das über die Faulen, Trägen herfiel und nur durch Tanzen abgeschüttelt werden konnte. - (pat)

Entwöhnung (3) Der Abrichter sagte: „Meine Ziehlinge — um nicht auf sie die menschliche Bezeichnung „Zöglinge" anzuwenden — sind vollständig dessen entwöhnt, was sie sich da während des Dressuraktes einverleiben müssen. Hier lagen die größten Schwierigkeiten und der letzte Erfolg der Dressur. Ich begann den Löwen statt mit Pferdefleisch mit zarten Täubchen zu futtern. Dann bekam er Fisch, erst noch wilde Forelle, später nur zahmen Karpfen. Leberwurst aus Dorschleber, stark durchsetzt mit Mehl, leitete über zu den Kohlehydraten. Jetzt frißt er nur noch mit Hagebuttenmark bestrichenen Zwieback, der besonders knusprig gebacken wird, damit seinen Zähnen die Täuschung zerkrachender Knochen möglichst erhalten bleibt. Seine Mähne freilich hat durch die Umstellung ein wenig gelitten, und der linken Pranke sind die Krallen entfallen, jedoch tut dies der Exaktheit meiner Vorführung keinen Abbruch. — Der Frosch, der sich dank meiner rastlosen Bemühungen jetzt vor Fliegen ekelt — ich habe untrügliche Beweise dafür —, nährt sich ausschließlich von feinen Gemüsen: spitzeste Spargelspitzen, im Entstehen begriffene Rosenköhlchen, in eigener Zucht gepflegte Edelpilzchen. Seine Unterhaltung kostet mich mehr Geld und Kopfzerbrechen als der ganze Löwe."

„Bravissimo!" rief Professor Lautenschlag. „Nun sagen Sie uns, verehrter Meister, wie es mit Ihrem Äffchen aus der Familie der Pinselohrigen bestellt ist. Ihn abzurichten mag wohl gegenüber den anderen Schwierigkeiten ein Leichtes gewesen sein."

„Es war das Schwerste," sprach der Dompteur mit erschöpfter Miene. — Flüsternd fuhr er fort: „Er zeigt eine unbändige Lust, den Frosch zu zerbeißen."

„Aber Affen fressen doch gar keine Frösche, Affen fressen Mäuse," rief die kleine Prinzessin.

„Hoheit irren," sagte die gelehrte Erzieherin milde, „Mäuse fressen Frösche, haben wir nicht die Batrachomyomachie, den Froschmäusekrieg der Alten ? — Affen fressen vorzüglich Bienen und anderes kleinstes Geflügel."

„Das ist langweilig zu hören. Ich will nochmal das Verschlucken!" verlangte die gemaßregelte Hoheit.

Dem Dresseur glückte es, den Wunsch der kleinen Prinzessin zu übergehen. Er fuhr fort, zu Professor Lautenschlag gewandt: „Mir ist der Grund klar, weshalb es den Affen dazu drangt, den Frosch zu zerkleinern und wirklich zu fressen. Er bekommt von mir die Nahrung sein er Vorfahren: Nüsse, Milch und Obst, — aber er ist täglich gezwungen, einen Lurch in seiner Backentasche zu bergen. Das heißt, eigentlich sollte er ihn ja sorgsam hinunterschlucken, aber so weit habe ich ihn noch nicht gebracht. Das kommt noch mit der Zeit. Dieser Lurch ist ihm ein ungelöstes Rätsel. Weil er sich nun einmal gezwungen sieht, ihn zu essen, ohne ihn zu essen — wie mag er eigentlich schmecken ? Er hat es nicht auf der Zunge, — nicht auf der Zunge der Voreltern, die seine Zunge ist. — Ich fürchte mich, sehr verehrter Herr Professor, täglich vor der Katastrophe."

„Das ist erschütternd — was Sie uns da erzählen ?" rief Professor Lautenschlag, „erschütternd, weil Ihre wundervollen Errungenschaften ständig in Gefahr sind, vernichtet zu werden. — Wie haben Sie denn den Fröschen die Fliegen abgewöhnt? Sie sprachen davon, daß Ihr Lurch sich unumstößlich vor Insekten ekelt."

„Ich habe ihm die leckersten -: grüngoldene Fliegen vorgesetzt, die in Petroleum getaucht waren; fette Wasserspinnen, mit Naphtalininjektionen versehen; Regenwürmer, die sich verheißungsvollst und heftig ringelten, weil die Karbolsäure, mit der sie übergossen waren, sie zerbiß. Tag für Tag. — Er stand von seiner gewohnten Mahlzeit ab," erklärte der Dompteur schlicht.

„Das ist lustig." rief die kleine Prinzessin, die sich wieder angeregt fand. „Und die Fliege hier auf dem Käsetürmchen?'

Der Dresseur verneigte sich. „Hoheit, der Frosch ist nach seinen langen schlechten Erfahrungen verläßlich. Auch glaube ich, er liebt jetzt seine Gemüse. Trotzdem trägt die Fliege zur Sicherheit an beiden Hinterbeinen winzige Säckchen mit Moschus. Wollen Hoheit sich selbst von dem starken Moschusgeruch Überzeugen?"

Selbstverständlich wollte das die kleine Dame. Sie neigte sich dicht auf das Türmchen und machte im angespannten Geschnupper ihr entzückendes Mündchen weit auf. Da es breit war wie das Maul eines Frosches und sie außerdem noch ihr Zünglein heraushängen ließ, nahm die Fliege dies für die so oft an sie gestellte Zumutung. Sie marschierte hurtig — gerade diesmal hurtig — auf die Zugbrücke.

Das Geschrei war groß, und der Dompteur konnte gerade noch sein Kleinod retten.

Aber man wollte natürlich der jungen Hoheit auf diesen schrecklichen Schrecken hin etwas Liebes antun, und da sie, schon -wieder beruhigt, souverän schrie: „Verschlucken! Nochmal von vorn!" so entschloß man sich zur Wiederholung der ganzen Vorführung.

Das kleine Fräulein war sehr geschmeichelt, als sie merkte, daß man ihrem Eigensinn willfahren werde, und sie wollte dem Dompteur in schöner Herablassung etwas Freundliches sagen, damit er wisse, sie zürne nicht mehr wegen der Fliege. „Hat-hat-Herr Bändiger," strahlte sie „hat der Frosch Flöhe, weil der Affe ihn gelaust hat?"

Alle lachten bereitwillig über diese reizenden Worte, nur Professor Lautenschlag verfiel in belehrende Strenge. „Hoheit verzeihen," sagte er, „kein Frosch birgt Flöhe. Es ist ihm nicht gegeben, seine Oberfläche pelzig oder fedrig bedeckt zu sehen, was Voraussetzung ist für die Lebensmöglichkeit jedes Schmarotzers. Der Lurch ist nackt und glatt und feucht."

„Wie kommt es dann, daß Sie Flöhe haben?" fragte das Prinzeßchen überlaut trotz allen Pfuigeflüsters der Erzieherin.

Lautenschlag — nach einigem Zögern — antwortete düster: „Es ist das Menschenhemd — und auch die Unterhose. Hierin nisten sie. Anders kann man es nicht erklären." Zur schnellen Ablenkung vom Thema warf er eine Frage gegen den Dresseur: „Und die Fliege? Von ihr wollen Sie uns nichts erzählen l"

„Nicht viel zu sagen", achselzuckte der Gefragte. „Sie als erstes Tier in solcher Reihe braucht ihrer eigentlichen Nahrung ja nicht entwöhnt zu werden. Sie saugt an ihrem Käse."

„Und der Käse?"wollte die kleine Prinzessin wissen.

„Der Käse, Hoheit, frißt niemanden," beruhigte sie Professor Lautenschlag, „Er wird durch Pressen erzeugt, und verschwindet gefressen werdend. Als einer Freßlust Produkt aus Alpenkräutern, Magensaft und Milchdrüsen führt er ein passives Dasein, bis er sozusagen wieder dorthin zurückkehrt, -woher er gekommen ist."  - Alexander Moritz Frey, Dressur. In: A. M. F., Der unheimliche Abend. München 1923

Entwöhnung (4) «Nichts half, auch nicht das Beschmieren des Daumens mit Senf oder das landesübliche Bekleben des Fingers mit Leukoplast. Die Saugmechanismen waren so fest eingefahren, daß sie nicht zur Entgleisung zu bringen waren. In einer neurophysiologischen Ausdrucksweise gesprochen: Es handelte sich um einen bedingten Reflex im Sinne Pawloffs, d.h. das Nuckeln blieb eine der Vorbedingungen, die erfüllt sein mußten, wenn der Schlaf sich einstellen sollte.«

Hier setzte nun die Erziehung durch Uschi Grabowski ein. Die Schwester, die mit ihrem neuen Verlobten nach Scheidung nach Jugoslawien gefahren war, hatte ihr das Kind zur Aufbewahrung gegeben. Die ehrgeizige Uschi, Zeit hatte sie ja, da ihr Mann als Ingenieur eine Bohrinsel in der nördlichen Nordsee befehligte, wollte der Schwester ein künftig nicht mehr nuckelndes Kind zurückerstatten. Uschi saß Stunden neben dem Kind, und jedesmal, wenn der Daumen zum Mund flutschte, störte sie mit einem Kandiszucker, den sie dem Kind zwischen die Lippen drückte. Das Kind leckte dann am Kandis, den Daumen allerdings noch immer im Mundwinkel. Uschi bemerkte, daß das Kind jetzt noch häufiger den Daumen zum Mund führte, da ja diese Bewegung eine Zusatzbedeutung erhielt. Sie bedeutete »erneuten Kandis«. Uschi sah deshalb von diesem System ab. Sie sagte: »Man darf das Lutschen gar nicht erst beachten.« Bei Nichtbeachtung, das sie über Stunden und Stunden durchführte, blieb es aber beim Lutschen. Dagegen half es, wenn Uschi dem Kind zerstoßene Schlaftabletten im Himbeersirup eingab. In einem Fall schlief das Kind dann so rasch ein, daß es das Schlafzeremoniell vergaß. Der Daumen war erst halbwegs zum Mund geführt. Eine Dauerlösung war das nicht. Uschi versuchte etwas anderes: Sie hielt dem Kind immer dann die Nase zu, wenn es den Daumen in den Mund eingeführt hatte. Also nicht verhindern, daß der Daumen in den Mund kommt, sondern die Fortdauer des Lutschens stören. Jetzt öffnete sich der Mund, schnappte nach Luft, der Daumen fiel heraus. Damit das Kind nicht schrie oder weinte, kitzelte Uschi dessen Beine, den Bauch, kniff auch wohl mal in das winzige Geschlechtsteil (sie sagte: »künftiges Geschlechtsteil«). Die beiden freundeten sich an. Oft tollten sie so bis 12, Uhr, 1 Uhr nachts. Das Kind vergaß allmählich das Nuckeln.

Nach Rückkehr der Schwester paradierte Uschi mit einem saugentwöhnten Kind. «Ich gebe das Kleine nicht gerne wieder her.« »Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Das ist aber eine Überraschung.« Es blieb der Nachteil, daß nunmehr das Kind abends nicht mehr einschlief. Weder mit Weinen, noch mit Tollen oder auf das Kind Einsprechen, d.h. Geschichten Erzählen bis 23 Uhr, war es zum Schlafen zu veranlassen. Erschöpft schlummerte es manchmal ab 3 Uhr nachts. Morgens war es quärrig.  - (klu)

Erziehung Gewohnheit

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme