ntsteinerung     Der breite Fahrdamm lag im Dunkeln. In der leeren, weiten Siegesallee ließen um Mitternacht die Markgrafen, Kurfürsten und Könige ihre Marmorgelenke krachen und gingen spazieren. Sie gingen immer um Mitternacht spazieren. Aber heute waren sie aufgeregt, hier auf der Chaussee war etwas vorgefallen, sie begriffen es nicht. Albrecht der Bär, nahe dem Rolandbrunnen, war schon vor zwölf Uhr nicht auf seinem Sockel zu halten. Er glaubte, es handle sich um einen Slawenüberfall. Sie seien in die Burg eingebrochen und hätten sich in der Nähe verschanzt. Er kletterte herunter, um Hilfe zu holen.

Nun hängt beim Erwachen von Marmorstatuen viel davon ab, ob sie richtig hergestellt sind. Zum Beispiel haben es expressionistische Figuren immer schwer und schweben in ständiger Lebensgefahr wegen ihrer übernatürlich langen und gewundenen Gliedmaßen, die schwer zu dirigieren sind. Albrecht der Bär, der alte Recke, merkte wieder einmal beim Herabsteigen vom Sockel, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Er hinkte, er hinkte greulich. Er hatte zeit seines Lebens nie gehinkt. Wie hätte er sonst solche Fehden bestehen können. Aber der Künstler hatte der Perspektive wegen oder aus Irrtum von seinem rechten Bein mehrere Zentimeter weggelassen. Nun stand Albrecht schräg unten, schnellte links in die Höhe und sank rechts herunter. Wie sollte man in dieser Weise stürmen und den Kampf beginnen. Er heulte vor Wut; mit Toten kann man sich alles erlauben. Aber er bezwang sich und hoppelte los.

«Alarm, Alarm, Feuerjo!» schrie er. Er besaß einen kolossalen Brustkorb, in dem der Bildhauer nachgeholt hatte, was er an den Beinen versäumte.

Ein Lebender kann sich schwer in die Ideen einer Steinfigur hineinversetzen. Dieser Albrecht der Bär sprengte die Allee entlang und staunte, obwohl er schon Hunderte Male hier entlanggelaufen war, über die unbewegliche Reihe der Steinfiguren, seiner Leidensgenossen und Kollegen, die noch schliefen. Was machten die Kerls da oben? Die Slawen waren eingefallen, und sie stellten sich auf Sockel und rührten sich nicht. Er brüllte: «Hallo! Feuerjo! Alarm!» Der erste, der seinen Balkon verließ, war Friedrich von Hohenzollern, Burggraf von Nürnberg, den sein Künstler mit großen Ohren versehen hatte, die jeden Schall enorm verstärkten und ihm das Leben im Stein verbitterten. Er hörte Albrecht den Bären schreien und stellte ihn mit der üblen Laune eines Nervösen: Was es hier zu schreien gäbe.

Albrecht schnellte an seinem linken Bein wie an einer Stange in die Höhe, brüllend:

«Jaczo von Köpenick. Feuerjo, hoho! Alle Mann an Deck. Die Luken schließen. Die Slawen sind da. Sie sind über die Havel. Die Slawen sind eingefallen.»

Friedrich staunte: «Wieso? Welche Slawen?» «Jaczo von Köpenick! Hoho! Alle Mann an Bord. Luken schließen. »

Friedrich von Nürnberg betrachtete den Mann, der sein Schwert schwang. Er schalt ihn: «Du bist betrunken. Hier gibt's keine Slawen. »

Überrascht ließ sich Albrecht auf sein linkes Bein herunter, stierte seinen Partner an und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust:

«Jaczo, Jaczo von Köpenick.» Und rannte brüllend weiter. Der leidende Friedrich hielt sich die Ohren.

Und da wackelten schon und taperten, wälirend Albrecht auf dem Fahrdamm weiter brüllte und hopste, die andern an, die von ihren Sockeln gekrochen waren. Sie suchten mit ihren Gebeinen fertigzuwerden, sich zu biegen und zu beugen, zu verkürzen und zu verlängern. Die Armen stöhnten und beklagten sich über den Zustand, in  den sie die Kunst versetzt hatte. Sie seufzten oder fluchten je nach dem Temperament und der erlittenen Behandlung. Da erschienen nacheinander unter den Bäumen der Siegesallee: Albrechc Achilles, Johann Cicero, Joachim der Erste, Joachim der Zweite, Joachim Friedrich, Johann Sigismund, Johann Georg. Die ganze Ahnentafel, die ganze Geschichtstabelle hatte sich knarrend und krachend in Bewegung gesetzt, und sie lärmten durcheinander und wollten alle wissen, was heute hier vorgefallen war. Denn alle hatten etwas gefühlt und ängstigten sich. Sie mühten sich, von der Stelle zu kommen. Bewegungen in Marmor sind allemal schwierig. Aus einem Gebüsch ließ sich eine kreischende Stimme vernehmen:

«Au secours, au secours, aidez-moi, je vous en prie. Will mir nicht einer behilflich sein?»

Das war der Große Kurfürst, der mit seiner Allongeperücke im Astwerk eines Baumes hängengeblieben war. Zwei Herrschaften rannten herbei, schlugen mit ihren Schwertern die Äste ab, worauf dieser Friedrich Wilhelm endlich herabsteigen konnte. Aber ein abgehauener Ast hing noch an der Perücke. Wütend riß der Kurfürst daran und stand plötzlich mit einer mächtigen Glatze da, schwer verändert, wahrhaftig, und wenig kurfürstlich, und schämte sich. Wütend ließ er sich auf der Seitenbank nieder, hielt sich den blanken Schädel und stöhnte:

«Ich habe genug.» - Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution. Bd.4. München 1978 (dtv 1389, zuerst 1939 ff.) 

 

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