Entschleierung   Ich kehrte von Baden-Baden zurück unter einem so verhangenen Himmel, daß die Sonne große Mühe zu haben schien, hier und da ein paar blasse Strahlen durch die Wolkendecke zu schicken. An einer Biegung, die schon hoch genug gelegen war, daß sich zur Linken unterhalb der Straße eine weite Landschaft auffächerte oder eher hinter einer Nebelwand erraten ließ, kam dieses Sonnenlicht, das trotz der noch weit entfernten Dämmerung fast schon geschwunden schien, auf unerwartete Weise wieder zur Geltung: zwei oder drei weite Flächen ungetrübter Helligkeit lagen in Richtung auf die Ebene über der verschwommenen Landschaft als milchige Flecken, die sich losgelöst von jeglichem Bezug zu der Struktur dieses Geländeabschnitts auszubreiten schienen (ein wenig wie auf modernen Gemälden, auf denen Zeichnung und Farbe systematisch auseinanderfallen) und ohne Rücksicht auf Umrißlinien Baumgruppen und die nunmehr spielzeuggroßen Häuseransammlungen überströmten. Flecken, die fast stofflich wirkten, wie es in einem kleineren Maßstab diejenigen sind, die eine fett- oder zuckerhaltige Substanz auf einem Tuch hinterläßt, und die die Materialität des Lichtes hervorzukehren schienen (sie schienen den Träger des Lichtes und nicht die beleuchteten Gegenstände zu zeigen). Klare Flecken, die in gewisser Weise die Landschaft auf dem Erdboden in eine Art Negativ der Landschaft am Himmel verwandelten, der mit großen schwarzen Wolken überzogen war.

Sofort hatte ich den Eindruck, daß die Entschleierung, die sich vor meinen Augen vollzogen hatte, wörtlich zu nehmen wäre und daß es sich um eine entscheidende Wahrheit über die Welt und über das Schicksal handelte, die mir diese zugleich bewölkte und sonnenbeschienene Landschaft zu lesen gab, die droben wie drunten den manichäistischen Widerstreit zweier Prinzipien zu illustrieren schien und deren irdische Hälfte als das umgekehrte Gegenbild der himmlischen deren ebenerdige Übersetzung in jene Sprache hätte sein können, die von den Gegenständen gesprochen wird, die als greifbare Dinge und nicht etwa als Luftschlösser unseren gewohnten Rahmen ausmachen. Eine grandiose Wahrheit, die in einem grandiosen Schauspiel zum Ausdruck kam, das offenbar dazu angesetzt war, mir eine Art Heil zu überbringen - das Wiederaufleben der Natur -, indem es mir zeigte, daß es nicht nur Finsternis gibt, sondern auch das Licht: mehr noch, indem es mich seinem Triumph über die Finsternis beiwohnen ließ, einem offenkundigen Triumph, da die Art und Weise, in der es sich auf die einzelnen kleinen Dinge unserer Umwelt legte (auf Unebenheiten des Geländes, auf die Pflanzenwelt und auf die für das Wirken von Menschenhand so typischen Häuseransammlungen), seine Transzendenz verdeutlichte. Jedenfalls ein strahlendes Bild, in dem das öde Auf und Ab (Hoffnung - Angst, Lust -Schmerz, Begeisterung - Ekel), das unser persönliches Los, aber auch unsere Rolle als Zeugen oder gar Akteure einer Geschichte uns auferlegt, die unterschiedslos die beseelten Sternstunden mit dem Rückfall in das Grauen von Krieg und Verbrechen vermengt, sich bis zur Ebene des Erhabenen steigerte, zur Ebene der Welt, so wie sie sein sollte, damit sie zumindest ihren Charakter als düstere Schmierenkomödie verlöre: war es nicht ein Gedanke dieser Art, den mir dieser Anblick, der mich wie eine Vision faszinierte, letzten Endes eingab, zweifellos deswegen, weil er einen alten Wust religiösen Empfindens in mir ansprach? Die Offenbarung eines tatsächlich göttlichen Lichtes, wäre ich zu sagen versucht gewesen, würde das Wort Gott zu meinem Wortschatz gehören. Aber ich mag dieses Wort nicht, diesen Lückenbüßer, diese große Variable, deren Ähnlichkeit mit einem Koloß auf tönernen Füßen mir im übrigen nur das Gefühl der Abneigung vermitteln kann (und sei es nur aufgrund der »Anti-Himalaya-Gesinnung«, die mich auch gegenüber jenen Meisterwerken Abstand wahren läßt, von denen man nur mit zitternder Stimme spricht wie weiland die Wagnerianer). Lieber als mich auf einen Begriff zu beziehen, der zu aufgebläht ist, um nicht hohl zu sein, halte ich mich - durch den Griff nach dem Unmittelbaren - an das Nichtige, das - trotz seines nichtigen Aussehens -allem plötzlich eine glückliche Wendung gibt, an den Augenblick, den man im Gedächtnis behalten wird.  - (leiris)

Entschleierung (2)   Als der nachmittägliche Gottesdienst zu Ende war, rief die Glocke zum Begräbnis einer jungen Frau. Verwandte und Freunde waren s'chon im Haus versammelt, entfe'rnte Verwandte standen neben der Tür und redeten über die guten Eigenschaften der Verblichenen, als ihr Gespräch durch Mr. Hoopers Ankunft unterbrochen wurde, den noch immer sein schwarzer Schleier bedeckte. Jetzt allerdings war dieser ein passendes Zeichen. Der Pfarrer trat in den Raum, in dem die Tote aufgebahrt lag, und beugte sich über den Sarg, um seinem verstorbenen Pfarrkind ein letztes Eebewohl zu sagen. Im Niederbeugen hing der Schleier gerade von seiner Stirn herunter, so daß die Tote, wären ihre Augen nicht für immer geschlossen gewesen, sehr wohl sein Gesicht erblickt hätte. Fürchtete sich denn Mr. Hooper vor ihrem Blick, daß er den schwarzen Schleier so hastig zurückzog? Eine Person, die diesem Zwiegespräch zwischen dem Eebendigen und der Toten beiwohnte, scheute sich nicht zu behaupten, daß in dem Augenblick, da des Pfarrers Züge entblößt waren, ein leichter Schauer die Tote überlaufen hätte, daß Totenhemd und Musselinhaube knisterten, obwohl das Gesicht die Ruhe des Todes beibehielt.  - Nathaniel Hawthorne, Des Pfarrers schwarzer Schleier. In: N. H., Das große Steingesicht. Stuttgart 1983 (Bibliothek von Babel 9, Hg. Jorge Luis Borges)
 
 

Schleier Enthüllung

 

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