ntkleiden Ich stamme von der Goldküste. Darüber, wie ich eingefangen wurde, bin ich auf fremde Berichte angewiesen. Eine Jagdexpedition der Firma Hagenbeck — mit dem Führer habe ich übrigens seither schon manche gute Flasche Rotwein geleert — lag im Ufergebüsch auf dem Anstand, als ich am Abend inmitten eines Rudels zur Tränke lief. Man schoß; ich war der einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei Schüsse.
Einen in die Wange; der war leicht; hinterließ aber eine große ausrasierte rote Narbe, die mir den widerlichen, ganz und gar unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfundenen Namen Rotpeter eingetragen hat, so als unterschiede ich mich von dem unlängst krepierten, hie und da bekannten, dressierten Affentier Peter nur durch den roten Fleck auf der Wange. Dies nebenbei.
Der zweite Schuß traf mich unterhalb der Hüfte. Er war schwer, er hat es
verschuldet, daß ich noch heute ein wenig hinke. Letzthin las ich in einem Aufsatz
irgendeines der zehntausend Windhunde, die sich in den Zeitungen
über mich auslassen: meine Affennatur sei noch nicht ganz unterdrückt; Beweis
dessen sei, daß ich, wenn Besucher kommen, mit Vorliebe die Hosen ausziehe,
um die Einlauf stelle jenes Schusses zu zeigen. Dem Kerl sollte jedes Fingerchen
seiner schreibenden Hand
einzeln weggeknallt werden. Ich, ich darf meine Hosen ausziehen, vor wem es
mir beliebt; man wird dort nichts finden als einen wohlgepflegten Pelz und die
Narbe nach einem — wählen wir hier zu einem bestimmten Zwecke ein bestimmtes
Wort, das aber nicht mißverstanden werden wolle — die Narbe nach einem frevelhaften
Schuß. Alles liegt offen zutage; nichts ist zu verbergen; kommt es auf Wahrheit
an, wirft jeder Großgesinnte die allerfeinsten Manieren ab. Würde dagegen jener
Schreiber die Hosen ausziehen, wenn Besuch kommt, so hätte dies allerdings ein
anderes Ansehen und ich will es als Zeichen der Vernunft gelten lassen, daß
er es nicht tut. Aber dann mag er mir auch mit seinem Zartsinn vom Halse bleiben!
- (
kaf
)
Entkleiden (2) Ich weiß nicht, ob jemals festgestellt
wurde, daß ein Hauptmerkmal des Lebens die Separatheit ist. Wenn uns keine Fleischesschicht
umhüllt, sterben wir. Der Mensch existiert nur in dem Maße, in dem er von seiner
Umwelt abgesondert ist. Die Schädeldecke ist der Schutzhelm eines Raumfahrers.
Bleib drinnen, oder du gehst zugrunde. Der Tod ist Entkleidung,
der Tod ist Kommunion. Es mag wunderbar sein, mit der Landschaft eins zu werden,
aber es wäre das auch des zarten Egos Ende. Die Empfindung, die den armen Pnin
jetzt heimsuchte, war etwas jener Entkleidung, jener Kommunion sehr Ähnliches.
Er kam sich porös und durchlässig vor. Er schwitzte.
Er war zutiefst erschrocken. Eine steinerne Bank zwischen den Lorbeerbäumen
bewahrte ihn davor, auf dem Gehsteig zusammenzubrechen. War diese Anwandlung
ein Herzanfall? Ich bezweifle es. Dieses eine Mal bin ich sein Arzt, und ich
wiederhole, ich bezweifle es. Mein Patient war einer jener raren und unglückseligen
Menschen, die ihrem Herzen («einem hohlen Muskelorgan»
nach der schauerlichen Definition in Webster's
New Collegiate Dictionary, das in Pnins verwaister Reisetasche steckte)
mit angewidertem Schauder, nervöser Abneigung, krankhaftem Haß gegenüberstehen,
als wäre es irgendein starkes, schleimiges, unberührbares Ungeheuer,
das leider von einem schmarotzte. Wenn ihnen bisweilen
sein stolpernder und strauchelnder Puls ein Rätsel aufgab, untersuchten die
Ärzte ihn gründlicher, und das Kardiogramm zeichnete sagenhafte Gebirgsmassive
und deutete auf ein Dutzend tödlicher, sich gegenseitig ausschließender Krankheiten
hin. Er hatte Angst, das eigene Handgelenk anzufassen. Er versuchte nie, auf
der linken Seite zu schlafen, selbst in jenen trostlosen
Nachtstunden nicht, wenn der Schlaflose seine beiden Seiten durchprobiert hat
und sich nach einer dritten sehnt. - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004
(zuerst 1957)
Entkleiden (3) Mr. Willows gab sich der verträumten Beschäftigung hin, seine Socken auszuziehen. Das
trifft allerdings nicht ganz den Kern der Sache. Der Mann zog nicht tatsächlich
seine Socken aus, sondern arbeitete sich nach und nach in eine derartige Verfassung
hinein, daß er gezwungen sein würde, irgend etwas Entscheidendes bezüglich seiner
Socken zu unternehmen, entweder in dieser oder jener Hinsicht. Es hatte fast
den Anschein, als hege er die verrückte Hoffnung, daß seine Socken, hatten sie
erstmal seine Absicht erkannt, sich entgegenkommenderweise selbst ausziehen
würden. Dem Ausdruck seiner trüben, abwesend dreinschauenden Augen nach hätte
man glauben können, daß er im Netz irgendeines mystischen Rituals transzendenter
Leiblichkeit gefangen war. - Thorne Smith, Verkehrte Welt. Frankfurt am
Main 1987 (zuerst 1933)
Entkleiden (4) ›Auch eine Kugel kann zermalmt und verschlungen werden, so gut wie jede Gestalt der Materie. Es gibt keinen Schild, den ein genügend starkes Schwert nicht durchbohren könnte, und kein Schwert, das sich an einem harten Schild nicht schartig schlüge. Die Materie, o Brüder, ist ewiges Auf und Ab, stets im Fluß und im Umbau. Sie ist nichts Bleibendes, und wahrhaft vernunftgekrönte Wesen sollten nicht sie zur Wohnung wählen, sondern das, was unveränderlich, ewig und vollkommen und dennoch von dieser Welt ist.‹
›Und was ist das?‹ - fragten die anderen Weisen. ›Durch die Tat will ich
es euch lehren!‹ — entgegnete der dritte. Und vor ihren Augen begann er sich
auszuziehen. Er legte das kristallbesäte Übergewand ab, das goldgewirkte Zwischengewand
und das silberne Untergewand; er legte das Gehäuse des Schädels ab und das der
Brust; dann aber zog er immer schneller immer feinere Teile aus sich aus; er
nestelte die Gelenke auf, und nach den Gelenken die Fugen, nach den Fugen die
Schrauben, nach den Schrauben die Drähtchen, die Krümelchen, - bis er zuletzt
die Atome anpackte. Und da begann dieser Weise seine Atome zu schälen. Und er
schälte sie so flink, daß nur sein Dahinschmelzen und Schwinden sichtbar wurde
und sonst nichts. Und so geschickt ging er vor, und so sehr beeilte er sich
bei seinem Ausziehen, daß er zuletzt vor den Augen der entgeisterten anderen
Weisen als vollkommene Abwesenheit dastand. Die war
seine getreue Umkehrung und als solche anwesend. Denn
wo er vorher ein Atom gehabt hatte, genau dort hatte er jetzt kein Atom; wo
soeben sechs gewesen waren, zeigte sich das Fehlen dieser sechs; und wo er sich
eine Schraube ausgezogen hatte, verblieb das Fehlen einer Schraube, und es glich
ihr getreulich in allem. Und so wie vorher seine Völle gliederte sich nun seine
Leere, und sein Fehlen war ohne Fehl. Denn da er so
schnell gearbeitet und so geschickt manövriert hatte, verunreinigte ihm kein
Teilchen, kein materielles Fremdkörperchen die höchste
Vollendung der anwesenden Abwesenheit! Und die anderen sahen ihn als Leerheit,
die so gestaltet war, wie vor einer Weile er selbst; sie erkannten seine Augen
an der Abwesenheit schwarzer Farbe, sein Gesicht am Fehlen des blauen Schimmers
und die Gliedmaßen an den verschwundenen Fingern, Gelenken und Achselstücken.
›Auf solche Weise, o Brüder‹ - sprach der vorhandene Abhandene - ›nämlich durch
tätige Umverkörperung ins Nichts, erringen wir nicht nur ungeheure Härte im
Nehmen, sondern auch Unsterblichkeit. Denn nur die Materie verändert sich. Das
Nichts begleitet sie nicht auf dem Weg fortgesetzter Ungewißheit.‹
-
Stanislaw Lem, Robotermärchen. Frankfurt am Main 1973 (st 2673, zuerst
1964)
Entkleiden (5) Das Auskleiden ist für einen ungeübten
Gefangenen ein sehr mühseliges Geschäft. Als erstes muß man lernen, die Knöchelschoner
unter den Ketten flink aufzuschnüren. Diese Knöchelschoner sind aus Leder, etwa
eine Spanne lang, man trägt sie auf dem Unterzeug, unmittelbar unter dem Eisenring,
der das Bein umspannt. Ein Paar solcher Knöchelschoner kostet nicht weniger
als sechzig Silberkopeken, und doch schaffte sich jeder Sträfling ein Paar davon
an, auf eigene Kosten natürlich, denn ohne Knöchelschoner konnte man nicht laufen.
Der Eisenring umschließt das Bein nicht straff, sondern zwischen Ring und Bein
bleibt noch ein fingerbreiter Zwischenraum, daher schlägt das Eisen gegen das
Bein, reibt es auf, und schon am ersten Tag hätte man sich ohne solche Knöchelschoner
das Bein wundgescheuert. Diese Knöchelschoner abzunehmen ist noch nicht das
Schlimmste. Schwieriger ist es, sich der Unterhose unter den Fußketten geschickt
zu entledigen. Das ist ein regelrechtes Kunststück. Hat man die Unterhose etwa
zuerst vom linken Bein abgestreift, muß man sie zwischen Bein und Eisenring
herausziehen, und dann, wenn man das erste Bein frei hat, muß man dasselbe Hosenbein
wieder durch den Ring zurückschieben; um dann alles, was man vom linken Bein
abgestreift hat, durch den Ring am rechten Bein zu schieben; dann muß alles
miteinander noch einmal durch den rechten Ring geschoben und so endgültig ausgezogen
werden. Dieselbe Prozedur mußte auch beim Wäschewechsel durchgeführt werden.
- Fjodor M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus einem toten Hause. München
1985 (zuerst 1861-62)
Entkleiden (6) Ich hätte gern gehabt, wenn sie angefangen hätte, sich auszuziehen, ich mußte jedoch anfangen, indem ich mir die Krawatte abstreifte. Miriam legte den Schal ab, den sie um den Hals trug. Ich zog meine Jacke aus, Miriam die Halskette. Ich den Pullover, Miriam einen Schuh. Ich einen Schuh, Miriam den andern Schuh. Ich das Hemd, Miriam den Pullover. Ich den anderen Schuh, Miriam den Rock, daß sie im Unterrock dastand. Ich beide Socken, Miriam beide Strümpfe, und so war sie barfuß. Nachdem sie den Unterrock ausgezogen hatte, blieb ihr noch der Büstenhalter, aber dann zog sie den auch aus. Endlich waren wir nackt wie zwei Würmer. Miriam hob den Bettüberwurf auf, um darunter zu schlüpfen, aber darunter waren keine Leintücher, sondern nur die Matratze. So zog sie den Überwurf wieder zurecht und legte sich darauf hin.
Ich bin für die reine Erotik. Das Gefühl ist eine Sache und die Erotik eine
andere. Es gibt Individuen, die zur Erotik neigen, und es gibt Individuen, die
zum Gefühl neigen. Es ist selten, daß ein Mann und eine Frau zu beidem neigen.
Diese Fälle führen zum Delirium. - Luigi Malerba, Die Schlange. München 1992 (zuerst
1966)
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