Enthaltsamkeit   Vor einigen Tagen las ich wieder, daß ein Prediger im Lüttichischen, wo ich nicht irre, der 125 Jahre alt gestorben ist, von dem Bischofe sei gefragt worden, wie er es angefangen habe so alt zu werden. Ich habe mich, sagte er, des Weins, der Weiber und des Zorns enthalten. Hier ist, wie mich dünkt, nur die große Frage: wurde der Mann so alt, weil er sich jener Gifte enthielt, oder weil er ein Temperament besaß, das es ihm möglich machte sich jener Gifte zu enthalten? Ich glaube es ist unmöglich nicht für das letzte zu stimmen. Daß sich mit jenen Giften jemand das Leben verkürzen kann, und zwar sehr stark, ist kein Beweis, daß man sich das Leben dadurch verlängert, daß man sich ihrem Gebrauch entzieht. - (licht)

Enthaltsamkeit (2) Askese (griech.), bedeutet ursprünglich bei den Griechen die zu den Kampfspielen nötige körperliche Abhärtung und Uebung, das Training im modernen Sinne. Der religiöse Zweck fehlte hier gänzlich, wenn es auch schon im Altertum Selbstpeinigungen gab, die man zu Ehren einer bestimmten Gottheit, z. B. der Artemis, vornahm.

Von der Ein- und Unterordnung des Leibes in den Dienst der Kraft und Selbstbeherrschung auf das sittliche Gebiet übertragen, nennen wir A. das zur Erhaltung höherer Vollkommenheit auf Entsinnlichung gerichtete Handeln, sowohl die freiwillige Enthaltung von sinnlichen Genüssen, als auch die Ertötung der sinnlichen Empfindungen und des Fleisches überhaupt.

So lange es Religionen gibt, gibt es auch Asketen. Wir finden sie bei vielen wilden Völkern, als Fakire oder Derwische in Indien, als Sekte der Sufis im Islam, als Paje bei den Brasilianern usw. Doch erst das Christentum hat die Asketik, die Verbindung von Sexualismus und Askese, zu einem förmlichen System ausgebildet und die extremsten Konsequenzen daraus gezogen. Die physische und seelische Entmannung wurde als Ideal hingestellt.

Doch zeigt die Geschichte der sexuellen A., daß Verdüsterung des seelischen Lebens häufig damit verbunden war und hier der Boden für Halluzinationen, für Vision und Ekstase gegeben war. Und von den Heiligen der ersten Jahrhunderte n. Chr., insbesondere den Anachoreten, zieht sich die Geschlechtsverirrung durch das Leben der letzten zwei Jahrtausende. Die nicht wegzuleugnende Unzucht der Mönche und Nonnen in den mittelalterlichen Klöstern läßt dies deutlich  erkennen. - (erot)

Enthaltsamkeit (3) Der Araber ist von Natur enthaltsam; und der allgemeine Brauch, früh zu heiraten, hatte in den Stämmen ungeregelte Gewohnheiten fast ganz ausgeschaltet. Die öffentlichen Mädchen in den wenigen Siedlungen, die wir in den langen Monaten unseres Umherschweifens antrafen, bedeuteten unseren Leuten nichts, selbst wenn ihr übertünchtes Fleisch schmackhaft gewesen wäre für einen Mann mit gesunden Sinnen. In Abscheu vor solcher schmuddeligen Angelegenheit begannen die Jungen unter uns unbekümmert ihr weniges Verlangen einander an den eigenen sauberen Körpern zu löschen — mehr ein nüchternes Sichabfinden, das, vergleichsweise, unleiblich und selbst rein erschien. Später suchten einige dieses leere Beginnen zu rechtfertigen und beteuerten, daß Freunde, gebettet im schmiegsamen Sand in erhabener Umschlingung der glühenden Körper gemeinsam erbebend, dort im Dunkel verborgen einen sinnlichen Widerhall fänden für die geistige Leidenschaft, die unsere Seelen zu großem Tun entflammte. Andere wieder, danach dürstend, Begierden zu züchtigen, deren sie nicht ganz Herr zu werden vermochten, fanden einen grausamen Stolz darin, ihren Körper zu erniedrigen, und boten sich mit grimmiger Freude zu allem dar, was physischen Schmerz oder Ekel mit sich brachte.  - T. E. Lawrence, Die sieben Säulen der Weisheit. München 1979 (dtv 1456, zuerst 1922 u. ö.)

Enthaltsamkeit (4) Athanasius giebt als Ursache der Ehe an: (Quia subjacemus condemnationi propatoris nostri; - - - nam finis, a Deo praelatus, erat, nos non per nuptias et corruptionem fieri: sed transgressio mandati nuptias introduxit, propter legis violationem Adae. — Exposit. in psalm. 50.) [daß wir der Verdammnis unseres Stammvaters unterliegen; - - - denn der Zweck, den Gott ins Auge gefaßt hatte, war nicht, daß wir durch Heirat und Verderbnis geboren werden sollten; aber die Übertretung des Gebotes Gottes, Adams Ungehorsam, veranlaßte die Zeugung. - Über die Psalmen, 50.] Tertullian nennt die Ehe genus mali inferioris, ex indulgentia ortum [eine Art kleineren Übels, aus Nachsicht hervorgegangen] (de pudicitia, c. 16) und sagt: Matrimonium et stuprum est commixtio carnis; scilicet cujus concupiscentiam dominus stupro adaequavit. Ergo, inquis, jam et primas, id est unas nuptias destruis? Nec immerito: quoniam et ipsae ex eo constant, quod est stuprum (de exhort. castit. c. 9). [Die Ehe ist wie die Unzucht eine fleischliche Vermischung: denn der Herr hat das Verlangen nach ihr der Unzucht gleichgestellt. Also, mag man einwenden, du verwirfst auch die allererste und damals einzige Ehe? Gewiß, und mit Recht, denn auch sie besteht in dem, was man Unzucht nennt.] Ja, Augustinus selbst bekennt sich ganz und gar zu dieser Lehre und allen ihren Folgen, indem er sagt: Novi quosdam, qui murmurent: quid, si, inquiunt, omnes velint ab omni concubitu abstinere, unde subsistet genus humanum? - Utinam omnes hoc vellent! dum taxat in caritate, de corde puro, et conscientia bona, et fide non ficta: multo citius Dei civitas compleretur, et acceleraretur terminus mundi (de bono conjugali c. 10). [Ich kenne einige, welche murren und sagen: Wie nun, wenn alle sich jeder Begattung enthalten wollten, wie könnte dann das Menschengeschlecht bestehen? Möchten sie's doch alle wollen! wofern es nur geschähe in Liebe, aus reinem Herzen, mit gutem Gewissen und aufrichtigem Glauben: dann würde das Reich Gottes weit schneller verwirklicht werden, indem das Ende der Welt beschleunigt würde.]  - (wv)

Enthaltsamkeit (5) »O sidus clarum puellarum«, rief ich entzückt, »o porta clausa, fons hortorum, cella custos unguentorum, cella pigmentaria!« Und es zog mich hin zu ihr mit Macht, und ich spürte die Wärme ihres Körpers und den herben Geruch niegekannter Salben. Und der Spruch schoß mir durch den Sinn: »Kinder, wenn euch die Liebesglut überkommt, gibt es kein Halten mehr«, und ich begriff, daß ich nichts mehr vermochte gegen die Regung, die mich trieb, mochte das, was ich da empfand, nun höllische Machenschaft oder himmlische Gabe sein. »O langueo«, rief ich aus, und: »Causam languoris video nec caveo!« Auch weil es von ihren Lippen wie Honig troff und ihre Beine wie Säulen waren und ihre Füße zierlich in den Sandalen standen und ihre Lenden sich bogen wie zwei Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat. Oh Liebe, Tochter der Wonne, ein König hat sich in deiner Flechte verfangen, murmelte ich zu mir selbst, und dann lag ich in ihren Armen, und gemeinsam fielen wir auf den blanken Boden, und wenig später, ich weiß nicht, ob durch mein Betreiben oder durch ihre Kunst, sah ich mich meiner Kutte entledigt, und wir schämten uns nicht unserer Leiber, et cuncta erant bona.

Und sie küßte mich mit den Küssen ihres Mundes, und ihre Liebe war lieblicher denn Wein, und der Geruch ihrer Salben übertraf alle Würze, und ihre Wangen standen lieblich in den Kettchen und ihr Hals in den Schnüren. Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen (murmelte ich), laß mich dein Angesicht sehen, laß mich deine Stimme hören, denn deine Stimme ist wohlklingend und dein Angesicht zauberhaft, du hast mich verzaubert, du hast mich vor Liebe krank gemacht, meine Schwester, du hast mir das Herz genommen mit deiner Augen einem und mit deiner Halsketten einer, deine Lippen sind wie triefender Honigseim, Honig und Milch ist unter deiner Zunge, deines Atems Duft ist wie der Duft von Granatäpfeln, deine Brüste sind wie Trauben, Trauben am Weinstock, dein Gaumen ist wie erlesener Wein, der meiner Liebe glatt eingeht, der mir über Lippen und Zähne fließt... Ein Gartenbrunnen bist du, Narde und Safran, Kalmus und Zimt, Myrrhen und Aloe. Und ich schlürfte meinen Nektar und meinen Honig, ich trank meinen Wein und meine Milch - wer war sie, wer, die da aufging vor mir wie die Morgenröte, schön wie der Mond, strahlend wie die Sonne und schrecklich wie eine waffenstarrende Heerschar?   - Umberto Eco, Der Name der Rose. München 1982 (zuerst 1980)

Enthaltsamkeit (6) Seit über einem Monat bin ich enthaltsam. Ich spüre die Auswirkungen. Rein geistige Auswirkungen. Körperlich nichts. Auch die ausschweifendsten Träumereien können mich nicht in Erektion bringen. Selbst der Anblick von Blanche, wenn sie, wie heute abend, halbnackt mit ihrer Toilette beschäftigt ist, läßt mich kalt. Ich träume, ich denke an das Laster, an die Lust, auch an die Lust, einen weiblichen Körper zu sehen und zu berühren. Seit einiger Zeit habe ich mich sehr verändert. Aktbilder sagten mir früher nichts. Ich fand dergleichen völlig uninteressant. Jetzt verwirren sie mich leicht, ich finde ein gewisses Vergnügen daran, sie mir anzusehen. Körperlich noch immer nichts. Ich mag noch so sehr versuchen, mich durch Erinnerungen in Erregung zu bringen... Verlorene Mühe.

Nach dem, was Blanche neulich zu mir geäußert hat, würde ich, glaube ich, nein sagen, wenn sie sich mir anböte. Einseitige Lust mag ich nicht. Das hält mich auch davon ab, mich mit irgendeiner flüchtigen Liebschaft zu befriedigen. Wenn ich mir die Frauen auf der Straße ansehe, schüchtern mich die hübschen und eleganten ein. Ich brächte es nicht fertig, sie anzusprechen. Die anderen stoßen mich ab. Auch erinnere ich mich an die Enttäuschungen, die ich bei Abenteuern dieses Schlages erlebt habe. Im entscheidenden Augenblick war ich zu nichts fähig, so sehr war ich in Gedanken woanders (überlegte, sah mich um), und ging, wie ich gekommen war. Das hat mich unnützerweise einiges Geld gekostet. Damit wieder anzufangen, hat keinen Zweck. In der Liebe geht es mir wie im geselligen Umgang. Ich muß jemanden sehr gut kennen, wenn ich mich öffnen und Vergnügen empfinden soll. Ich brauchte eine Liaison, die aus Bekanntschaft erwachsen ist: daß ich eine Frau öfters treffe und daß dann eines Tages... Ich sehe durchaus das Groteske an meinem Zustand. Ich habe Geist. Ich habe sogar Talent. Ich bin nicht häßlicher als andere. Ich könnte über etwas Geld verfügen. Wozu? Meine Träumereien sind die eines Schülers, der nicht weiß, wie er es anstellen soll, nur daß er nicht all meine Überlegungen und Ernüchterungsmomente kennt.  - (leau)

Enthaltsamkeit (7)  Meint man nicht mit Recht, dass die Leute, die aus Naivität oder systematisch niemals Wein trinken, Dummköpfe oder Scheinheilige sind: Dummköpfe, das heisst Menschen, die weder die Menschheit noch die Natur kennen, Künstler, die die traditionellen Mittel der Kunst verschmähen, Arbeiter, die das Handwerkszeug beschimpfen; – Scheinheilige, das heisst schamhafte Lüstlinge, Prahler der Enthaltsamkeit, die im Verstohlenen trinken oder irgendein geheimes Laster haben. Ein Mensch, der nur Wasser trinkt, hat ein Geheimnis, das er vor seinesgleichen verbergen muss. - Baudelaire

Enthaltsamkeit (8)  Aristipp pflegte auch Umgang mit der Buhlerin Lais, wie auch Sotion im zweiten Buche seiner Sukzessionen berichtet. Den Tadlern antwortete er in bezug auf sie: „Ich bin ihr Herr und nicht ihr Knecht; denn zu gebieten über die Lust und ihr nicht zu unterliegen, das ist wahrhaft preiswürdig, nicht sie sich zu versagen." - (diol)

Enthaltsamkeit (9)  Mir ist bewußt, daß sich einige meiner Leser ein Leben lang des Genusses berauschender Getränke enthalten, weil sie davon überzeugt sind, daß ich das Trinken mißbillige und sie infolgedessen nicht trinken können, ohne sich mein tiefes Mißfallen zuzuziehen. Dies entspricht nicht ganz den Tatsachen. Ich selbst bin durchaus dafür bekannt, daß ich trinke, für gewöhnlich in Maßen (das liegt bei Finsterwalde), da ich der Ansicht bin, daß die Sättigung der inneren Organe mit giftigen Flüssigkeiten Gelegenheit zur Kultivierung von Pein, Ekel und Todesfurcht als unschätzbare spirituelle Therapie bietet. Auch halte ich das Trinken für löblich, weil es für den größten Witz verantwortlich ist, der je propagiert wurde, nämlich daß die Abstinenz vom Alkohol (mit welcher eiserne Gesundheit, klarer Blick, makellose Nerven und finanzielles Gedeihen einhergehen) eine Demütigung ist, eine Not, die nur von Mystikern ertragen werden kann —, ganz im Gegensatz zum übermäßigen Trinken (zu welchem der Verfall der Organe, zerrüttete Familien, Mord, Diebstahl, Lähmung und plötzlicher Tod gehören).   - (myl)

Enthaltsamkeit (10)  Ich trinke kein Wasser. Ich trinke nichts, in dem Fische ficken. - W. C. Fields

Enthaltsamkeit (11)  Wisse, bleicher Leser, daß jedesmal wenn man sich wirklich des Sterbens enthält, daraus eine wirkliche Geburt hervorgeht, die um so heikler und schmerzhafter ist, als man ja nur mit sich selbst als Mutter aus der Finsternis auftaucht, nur durch die Kontraktion eines Willens, den man nicht immer richtig zu begreifen vermag. Lange Zeit wird sich der Verstand an die Tage erinnern, an denen er weder mit dem Körper noch mit der Außenwelt Kontakt halten konnte, und das ganze Leben erscheint ohne diesen anderen Blick sehr viel zerbrechlicher als der Körper, der es enthält. Man überrascht sich selbst dabei, wie man sich tastend durch eine Welt bewegt, die trotz allem voller Licht ist, um wieder zu den Leuten zurückzukehren, ganz vorsichtig, als könnten sie bei der geringsten Berührung zerbrechen, während man in sich selbst spürt, daß die Bruchstücke noch nicht ganz ihren angestammten Platz wiedereingenommen haben.  - Julio Cortázar, Carol Dunlop: Die Autonauten auf der Kosmobahn. Frankfurt am Main 2014 (BS 2481, zuerst 1983)

Enthaltsamkeit (12)   Matthiolus weiß uns mitzuteilen, daß einige, die sich aus Schüchternheit der Fleischeslust entschlugen, anschließend schwermütig und trübsinnig wurden und andere überängstlich, melancholisch und über alle Maßen traurig waren. Oreibasios erwähnt Patienten, die ohne Geschlechtsverkehr ständig über Niedergeschlagenheit und Kopfschmerzen klagten, und bei manchen traten diese Symptome schon auf, sobald sie sich nur zeitweilig enthielten. Der Nichtvollzug macht viele krank, weil er nach Arculanus, Rhazes und Magninus giftige Dämpfe zum Herzen und Hirn aufsteigen laßt. Und Galen selbst lehrt, der zu lange aufbewahrte männliche Samen verwandle sich bei manchen Betroffenen in Gift. Hieronymus Mercurialis sieht in seinem Kapitel über die Melancholie hierin einen Hauptauslöser. Villanovanus berichtet, daß er viele Mönche und Witwen gekannt habe, die allein aus diesem Grunde schwer an Melancholie gelitten hätten. Ludovicus Mercatus und Rodericus a Castro handeln ausführlich davon und sprechen bei alten Jungfern, Nonnen und Witwen von einer eigenen Abart der Melancholie, die daher rühre, daß diese Personen keinen Ehemann hätten. Aelianus Montaltus wie Wierus legen Galen entsprechend aus, und Christopherus à Vega verdanken wir die Erwähnung zahlreicher weiterer Fälle. Felix Platter berichtet im ersten Buch seiner Beobachtungen von einem hochbejahrten Elsässer, der sich ein junges Weib nahm und wegen seiner zahlreichen Gebrechen den ehelichen Pflichten gegenüber seiner Gattin lange Zeit nicht nachkommen konnte. Aufgrund dieser geschlechtlichen Hemmung aber wurde seine Frau wie toll und machte jedem, der sie besuchte, mit Worten, Blicken und Gesten eindeutige Angebote. Der Arzt Bernadus Paternus kannte einen guten, ehrbaren und frommen Seelsorger, der, weil er weder freiwillig heiraten noch sich in einem Bordell Erleichterung verschaffen wollte, unter schweren melancholischen Anfällen litt. - (bur)

Askese Genuß

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