ntbehrlichkeit

 

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der Großen Magellanschen Wolke.

Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

   - Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)

Entbehrlichkeit (2)   Wie ein Schiff alles Entbehrliche ins Meer wirft, wenn es sinken will, damit wenigstens nicht alles auf einmal sinkt, so legte sie, da nun doch einmal gewissermaßen das Leben auf dem Spiele stand, ihren Hut mit Nadel, ihre Handschuhe, ihre Handtasche mit Taschentuch und Portemonnaie, ihren Kneifer, Ringe und Armbänder als in diesem Falle vollständig entbehrlichen Ballast ab und lief bald den einen 5, bald den andern 5 nach, indem sie um die Ecke pendelte. Dabei bewunderte Auguste ihre Geistesgegenwart, daß sie bei aller Eile immer noch wußte, daß sie Ballast abwerfen mußte. Wieder so ein Fall von Reim, und zwar reimten sich wußte auf mußte, mußte auf wußte und mußte und wußte auf Auguste. Wieder reimte es sich in unerhört lächerlich selbstverständlicher Art und Weise. Alles deutete auf etwas Außerordentliches hin. Und Auguste pendelte wie gesagt inzwischen und währenddessen hin und her um die Ecke und fühlte dabei die innere Genugtuung, daß sie ihre Pflicht, so schwer es ihr auch wurde, voll und ganz erfüllte, und zwar fühlte sie es um so stärker, je schneller sie laufen mußte. Nur wurde sie heiß dabei, und die Kleider schlenkerten ihr um die Knie. Aber Auguste war stets ein scharf denkendes Mädchen von schnellem Entschlusse gewesen. Indem sie beim Laufen nun überlegte, daß sie ihre Geschwindigkeit steigern müßte, um noch inskünftig den Anschluß von den einen 5 bis zu den andern 5, die sich stetig voneinander, sowie von der Ecke entfernten, zu behalten, kam ihr der selbstverständliche, gewissermaßen auf der Hand liegende Gedanke, daß sie auch Kleid und Bluse als überflüssigen Ballast zu betrachten habe. Dabei freute sie sich, daß ihr immer noch bei aller Geschwindigkeit so schöne Wortspiele gelangen, und griff den gewissermaßen auf der Hand liegenden Gedanken fest ins Auge und entledigte sich weiteren Ballastes.  - Kurt Schwitters, Auguste Bolte. Zürich 1966 (zuerst ca. 1923)
 

Nutzen Überflüssigkeit

 

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