isenbahnfahren   Minouche, heilige Ménilmonteuse, ich rase gelinde, schwelge fast irr, zaudere süß . . . doch nur an dir und um dich ... O segne mich mit einem Pfiff! . . . Merci. O, wie sie lacht! . . . Aber auch . . . aber auch das Eisenbahnfahren besorgt Wichtiges an diesem Rederausch. Man bekommt ja den Takt gleichsam in den Leib gestampft. Und er, der Takt, und es, das Tempo: voilà, das Allerwichtigste! Was ist Tempo? Arrangierte Bewegung. Und da Reden gleichfalls eine derartige Bewegung ist, nur kontrollierter, ist der Takt dazu nicht ohne Bedeutung. Ich bin gegen Leute, die nur im Sitzen und bei großer Ruhe auf Ideen kommen, nicht einmal mehr mißtrauisch. Da bin ich überhaupt nicht. Das sind keine Begabungen. Das sind Sitz-Gelegenheiten. Sie haben schließlich auch nur Ideen, diese Leute. Und fallen deshalb sofort hinein, wenn sie sich in Bewegung setzen. Unsereiner hat Einfälle. Das Wort schon enthält Bewegung. Die besten Einfälle hat man übrigens im Fallen. Deshalb sind die gefallenen Mädchen so erfinderisch vor dem Zwang, sich irgendwie - aufzuhalten. Und die gelandeten Fische nicht faul und überhaupt auf der Höhe, auf der sie nicht verweilen, weil dort die Geschäfte zu schlecht gehen. Aber die Höhe ins Betriebsleben verpflanzt: und das große Geschäft beginnt. Minouche, du bist auf der Höhe. Ich kannte dich kaum zwei Tage, als ich mir bereits mit äußerster Lebhaftigkeit dich in den Armen eines sogar hübschen jungen Mannes vorzustellen vermochte, wie du, eine Zigarette liebkosend zwischen den Lippen und die Augen in einem Lehrbuch über praktische Astrologie, plötzlich auf deine Armbanduhr siehst und lakonisch meldest: ,Mein Herr, wenn Sie weitermachen wollen, müssen Sie nachzahlen.' - Walter Serner, P.L.M. In: W.S., Der elfte Finger. München  1988 (zuerst 1927)

Eisenbahnfahren (2) Hast du dich noch nie gefragt, warum einen das Eisenbahnfahren irgendwie erregt? Die Romanschriftsteller haben aus diesem Grund viele Romane geschrieben mit Personen, die im Zug reisen, weil im Zug sich mannigfaltige Vibrationen überkreuzen von den Rädern her, die über die Gleise laufen, und dem Wagen, der sie auffängt und auf die Reisenden überträgt. Der Reisende, der von der Eisenbahn schon erregt ist, empfängt auch noch die Vibration eines Fräuleins, das allein reist, oder einer verheirateten Frau, deren Mann weit weg ist, oder einer Witwe, die nach der Beerdigung nach Hause fährt. So entsteht die Liebesgeschichte. Wenn es dagegen zur Resonanz kommt, dann entstehen sexuelle Aggressionen, von denen die Zeitungen in den Nachrichten über Unglücksfälle und Verbrechen berichten.  - (prot)

Eisenbahnfahren (3) Die Kunst des Eisenbahnfahrens ist die Kunst des Wartens, und darin liegt der eigentliche Zeitgewinn, daß man Zürich nicht zu erreichen hat, sondern zu erwarten. So haben Eisenbahnen die eigenartige Eigenschaft, die Abstände zwischen Orten zu vergrößern, weil nicht das Gehen, sondern das Warten dazwischen liegt, also keine Distanz mehr, die die Orte verbindet, sondern nur noch eine Dauer. - Peter Bichsel, Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone. Darmastadt und Neuwied 1987

Eisenbahnfahren (4) Die wachsleinenen, gewölbten Sitze waren kalt wie Eis und klebrig vor Alter. Auf den leeren Stationen stieg kein einziger Passagier ein. Ohne zu pfeifen, ohne zu schnaufen fuhr der Zug langsam an, wie in Gedanken an den weiteren Weg.

Eine Zeitlang leistete mir ein Mann in zerrissener Eisenbahneruniform Gesellschaft, schweigend und in Gedanken versunken. Er drückte ein Tuch an das geschwollene und schmerzende Gesicht. Dann verschwand auch der irgendwo und stieg unbemerkt auf irgendeiner Haltestelle aus. Es blieben von ihm eine Delle im Stroh, welches den Fußboden bedeckte, und ein schwarzer, kaputter Koffer übrig, den er vergessen hatte.

In Stroh und Abfällen watend, ging ich schwankenden Schritts von Waggon zu Waggon. Die Türen der Abteile flatterten im Luftzug und standen sperrangelweit offen. Nirgends ein einziger Passagier. Endlich traf ich den Kondukteur in der schwarzen Uniform des Bahnpersonals dieser Linie. Er wickelte sich ein grobes Tuch um den Hals, packte seine Hab Seligkeiten, die Laterne und das Dienstbuch ein. »Wir sind gleich da, mein Herr«, sagte er nach einem Blick aus seinen völlig weißen Augen zu mir. Der Zug blieb langsam stehen — ohne zu schnaufen, ohne zu rucken, als verließe ihn langsam, zugleich mit dem letzten Atemzug des Dampfes, das Leben. - Bruno Schulz, DasSanatorium zur Todesanzeige. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966

Eisenbahnfahren (5)  Und Stunde um Stunde verging, es geschah nichts weiter, als daß wir etwa um fünf Uhr eine Kuh überfuhren, wir hörten, wie die Beine zerbrochen wurden, und wir machten einen Augenblick halt, um die Schienen zu untersuchen, und fuhren dann wieder weiter. - Knut Hamsun, Die Königin von Saba. Sämtliche Romane und Erzählungen Bd. 5. München 1977

Eisenbahnfahren (4)   Gewiß hatte er die Flöhe aus dem Eisenbahnwagen mitgebracht. Die ganze Nacht walzte er sich schlaflos, unter fortwährendem Kratzen. Sie liefen ihm die Beine entlang, kitzelten ihn an der Hüfte und machten ihn fieberheiß. Unter den in seine empfindliche Haut eindringenden Stichen erschwollen üppige Blasen, die sich vom Scheuern und Schaben immer heftiger entzündeten. Er machte wiederholt Licht, stand auf, zog das Hemd aus und wieder an ... und blieb mit alledem erfolglos. Zwar wurde gelegentlich so ein schwarzes Biest sichtbar, aber es enthopste dem Zugriff, und selbst wenn mal eins gefangen und anscheinend platt- und totgedrückt war, so pustete es sich in der nächsten Sekunde wieder zu normaler Dicke auf, um frohgemut weiterzuhüpfen und weiterzustechen. Amadeus sehnte sich fast nach den Wanzen zurück. Er geriet in Wut, und die Erregung dieser vergeblichen Jagd brachte ihn vollends um seinen Schlaf.

Noch den ganzen Reisetag juckte es ihn, und neu aufflammende Stellen bewiesen die ungebrochene Anhänglichkeit seiner Freunde. Dazu kam die entsetzliche Hitze. Der Waggon war voll von trinkenden, rauchenden, spuckenden, rülpsenden Arbeitern, deren mittägliche Zervelatwurst so stark nach Knoblauch roch, daß Amadeus übel wurde. Dennoch wechselte er (um nicht hochmütig zu erscheinen) das Coupé erst an der Grenze — und fand eine umfangreiche Amme, die ihrem Kleinen frische Windeln gab. Den trotzdem unternommenen Versuch, ein wenig zu schlafen, hinderte des Romfahrers weißer, flacher, steifrandiger Strohhut. Ließ man den in gewöhnlicher Lage, so hielt der Rand den Kopf von der Coupé-Rückwand fern; hob man ihn etwas hoch, um sich anlehnen zu können, so stülpte einem die Wand den ganzen Deckel vorn über die Nase; schob man ihn aber zurück, so keilte sich der Rand zwischen Nacken und Holz, und der Hut klappte über dem Schädel in die Hohe, wie das Ventil eines Dampfkessels. Schließlich, nahm Amadeus ihn ganz ab und schlang sich seinen Schal ums Haupt, ihn des grellen Lichtes wegen so arrangierend, daß auch die Augen von dem herabfallenden Seidentuch geschützt wurden... Übrigens hatte unser Reisender, durch Erfahrung gewitzigt, einige Vorsorge für die kommende Nacht getroffen; er hatte heute morgen in Toulon eine Schachtel Insektenpulver gekauft.  - André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (dtv 1106, zuerst 1914)

Eisenbahnfahren (5) Der Zug, der mich vom Sacré Cœur entfernt, bringt mich der Hölle näher. Der Drache, oder die Himmelsschlange, Leidensorganismus, das ist der Zug, der mich vom heiligen Atem wegführt. (Es gibt sicher jemanden auf der Welt, der diesen Satz versteht.) Die weiße Scheibe oder die himmlische Hand ist nur ein schmieriger Kerzenstumpf, und auf den von unserer Eisen- und Feuerschlange verbrannten Kais sind diese Schiffe Särge und sprechen eine klare Warnung aus. Entferne dich nicht mehr von uns: du siehst: der Tod folgt uns auf Schritt und Tritt. - Max Jacob, Höllenvisionen. Frankfurt am Main 1985 (zuerst 1924)
 
 

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