isenbahnabteil   Es dunkelte, der Zug rollte mit voller Geschwindigkeit. Sie konnte nicht schlafen, ihre Nerven waren im Übermaße gespannt. Auf einmal kam ihr der Gedanke, das Geld nachzuzählen, das ihr Mann ihr in letzter Minute in französischen Goldmünzen übergeben hatte. Sie öffnete die kleine Handtasche und schüttete die blinkende Metallflut in ihren Schoß.

Plötzlich aber verspürte sie kalten Luftzug im Gesicht. Überrascht hob sie den Kopf. Die Tür war geöffnet worden. Erschrocken warf sie in aller Hast einen Schal über das in ihrem Kleide ausgebreitete Geld und wartete. Einige Sekunden verstrichen, dann erschien ein Mann, barhäuptig, im Abendanzug, an der Hand verletzt und schwer atmend. Er schloß die Tür, setzte sich, betrachtete sie mit funkelnden Augen, dann wand er ein Schnupftuch um sein blutendes Handgelenk.  - (nov)

Eisenbahnabteil (2) Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Diese Auffassung läßt sich rational nicht begründen. Um so tiefer scheint sie verwurzelt zu sein. - H. M. Enzensberger, Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Frankfurt am Main 1993

Eisenbahnabteil (3)  Wir beeilten uns, um einen leeren Wagen zu finden, in dem ich mich während der ganzen Fahrt mit Albertine küssen könnte. Da wir keinen fanden, stiegen wir in ein Abteil, in dem bereits eine Dame mit einem großen, häßlichen, alten Gesicht von eher männlicher Prägung saß, die sorgfältig hergerichtet und in die Lektüre der ›Revue des Deux Mondes‹ vertieft war. Trotz ihrer Gewöhnlichkeit war sie prätentiös in ihren Bewegungen, und ich fand ein Vergnügen darin, mich zu fragen, welcher sozialen Kategorie sie wohl angehören möge; ich kam rasch zu dem Ergebnis, sie müsse so etwas wie die Inhaberin eines großen Freudenhauses, eine Puffmutter auf Reisen sein. Ihr Gesicht und ihre Manieren schienen es laut zu verkünden. Ich hatte nur bislang nicht gewußt, daß solche Damen der Lektüre der ›Revue des Deux Mondes‹ oblagen. Albertine zeigte sie mir, nicht ohne mir dabei lächelnd zuzuzwinkern. Die Dame tat außerordentlich würdevoll, da ich aber meinerseits in mir das Bewußtsein trug, für den übernächsten Tag an der Endstation der Strecke, welche die Kleinbahn zurücklegte, bei der berühmten Madame Verdurin eingeladen zu sein, an einer Zwischenstation von Robert de Saint-Loup erwartet zu werden und etwas weiter fort Madame de Cambremer großes Vergnügen gemacht zu haben, wenn ich in Feterne gewohnt hätte, blitzte es ironisch in meinen Augen auf, wenn ich diese selbstbewußte Dame betrachtete, die zu glauben schien, wegen ihrer gesuchten Aufmachung, der Federn auf dem Hut und ihrer ›Revue des Deux Mondes‹ sei sie eine bedeutendere Persönlichkeit als ich. Ich hoffte, die Dame werde nicht viel länger bleiben als Monsieur Nissim Bernard und wenigstens in Toutainville aussteigen, aber nein. Der Zug hielt in Egreville, aber sie blieb sitzen, desgleichen in Montmartin-sur-Mer, in Parville-la-Bingard, in Incarville, so daß ich in meiner Verzweiflung, als der Zug Saint-Frichoux, die letzte Station vor Doncières, verlassen hatte, Albertine ohne Rücksicht auf unsere Mitreisende zu umarmen begann. - Marcel Proust, Sodom und Gomorra (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt am Main 1965, zuerst 1913 ff.)

Eisenbahnabteil (4)   Neben mir schliefen im Sitzen der Lehrer Jehuda Weinberg und seine Frau. Er hatte vor kurzem geheiratet und brachte sein junges Weib nach Petersburg. Unterwegs hatten sie leise miteinander geplaudert — es ging ihnen um die komplexe Unterrichtsmethode —, bis sie schließlich eingeschlafen waren. Noch im Schlaf hielten sie sich fest bei den Händen.

Der Telegrafist studierte ihr von Lunatscharski unterschriebenes Mandat, holte unter dem Mantel eine Pistole mit enger, verdreckter Mündung hervor und schoß dem Lehrer ins Gesicht.

Der zarte Hals der Frau schwoll an. Sie sprach kein Wort. Der Zug stand in der Steppe. Glitzerndes Polarlicht spielte auf den welligen Schneefeldern, aus den Wagen wurden die Juden auf den Bahndamm geworfen. In unregelmäßigen Abständen schallten Schüsse wie Rufe. Ein Kerl mit aufgestülpter Ohrenmütze führte mich hinter einen vereisten Holzstoß und durchsuchte mich. Auf uns herab schien zwischen Wolkenfetzen der Mond. Die violette Wand des Waldes dampfte. Über meinen Körper glitten klobige, steifgefrorene Finger. Der Telegrafist schrie vom Zug her: »Jude oder Russe?«

»Russe«, knurrte der Kerl, der an mir herumfingerte. »Könnte glatt ein Rabbiner sein.«

Er kam mit seinem zerknitterten, besorgten Gesicht dicht an mich heran, riß mir aus den Unterhosen vier goldene Zehnrubelstücke, die mir meine Mutter für die Reise eingenäht hatte, zog mir Stiefel und Mantel aus, drehte mich um, schlug mir mit der Handkante ins Genick und sagte auf jiddisch: »Lauf, Chaim!«

Ich machte mit bloßen Füßen ein paar Schritte im Schnee. Auf meinem Rücken brannte eine Zielscheibe, ihr Mittelpunkt durchdrang meine Rippen.   - (babel)

Eisenbahnabteil (5)  Zugabteil. Zwei junge Junkies im Entzug, unterwegs nach Lexington. Von plötzlicher Geilheit gepackt lassen sie die Hosen runter. Der eine seift sich den Schwanz ein und dreht ihn dem anderen wie einen Korkenzieher in den Arsch. »Jeeeeesus!« Beide ejakulieren gleichzeitig. Sie lösen sich voneinander und ziehen sich die Hosen wieder hoch.   - (lun)

Eisenbahnabteil (6)  Er atmet unregelmäßig, als ob er Fieber hätte. Atmet so schwer, daß Maigret, der es in dem Abteil nicht mehr aushält, sich erhebt und in den Gang hinausgeht.

Aber im Gang ist es zu kalt. Und so kehrt er in das Abteil zurück.

Es ist eine Alptraumatmosphäre. Hat der Mann oben sich nicht gerade auf die Ellbogen gestützt und sich hinuntergebeugt/ um zu versuchen zu erkennen, wer sein Reisegefährte ist?

Maigret dagegen hat nicht den Mut, sich zu rühren. Die halbe Flasche Bordeaux und die beiden Cognac, die er im Speisewagen getrunken hat, liegen ihm schwer im Magen.

Die Nacht nimmt keine Ende. Wenn der Zug hält, hört man Stimmen, Schritte im Gang, das Schlagen von Türen. Man fragt sich, ob der Zug sich jemals wieder in Bewegung setzen wird.

Man könnte glauben, der Mann weint. Manchmal verstummt sein Atem, dann plötzlich schnüffelt er. Er dreht sich auf die andere Seite und schneuzt sich.

Maigret bereut es, daß er nicht mit dem alten Paar in seinem Erster-Klasse-Abteil geblieben ist.

Er schläft ein. Er wacht auf. Er schläft von neuem ein. Schließlich kann er nicht mehr an sich halten. Er räuspert sich. Dann sagt er: »Entschuldigen Sie, Monsieur, können Sie nicht endlich einmal still liegen?«

Seine Stimme klingt unfreundlicher, als er es möchte. Wenn der Mann nun krank ist?

Der andere antwortet nicht und rührt sich nicht. Es kostet ihn gewiß große Mühe, das leiseste Geräusch zu vermeiden. Die Hitze muß dort oben erstickend sein.

Maigret versucht, die Heizung zu regulieren. Aber es gelingt ihm nicht.

Drei Uhr morgens! Nun muß ich endlich einschlafen, denkt er. Aber er ist hellwach, und er ist fast ebenso nervös geworden wie der andere.

Er lauscht.

Jetzt geht das schon wieder los ...

Maigret zwingt sich, regelmäßig zu atmen, und zählt bis fünfhundert, in der Hoffnung, dann einzuschlafen.

Tatsächlich, der Mann weint. Sicherlich ist es jemand, der zu einer Beerdigung in Paris gewesen ist, oder ein armer Kerl, der in Paris arbeitet und eine schlechte Nachricht aus seiner Heimat bekommen hat: seine Mutter ist krank oder tot — vielleicht seine Frau.

Maigret bereut es, daß er ihn so hart angefahren hat. Wer weiß, manchmal wird in einem Zug ein Sarg mitbefördert ...  - Georges Simenon, Maigret und der Verrückte. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 67, zuerst 1932)

Eisenbahnabteil (7)

- Max Ernst

Eisenbahnabteil (8)

- Altuna

Eisenbahnabteil (9) Einer schnarcht im Zug: das ist kein Sägen, sondern Gurgeln, Knacken, bis er schluckt; das Ventil ist verschlossen. Nun fängt er wieder an. Die Gesichter; wie die Menschen im Lampenlicht auf und ab sacken. Manchmal hüpfen sie auf den Polstern. Zwei stämmige Männer sind da, der eine mit dunklem Schnurrbart, vollem polnischen Gesicht. "Wie er schläft, ist sein Gesicht wampig, sein Mund völlig schlaff, die Lippen fallen schwer. Er schläft so dumpf. Er schläft nicht, er wird geschlafen. Es hat ihn gefaßt, er war erst zornig, und jetzt wird er geschlafen. So ergeben finster tut er seine Pflicht, erleidet den Zwang. Der andere hat den Kopf mit dem hängenden Schnurrbart und grauweißen Spitzbart nach hinten auf das Rückenpolster geworfen. Wie er da liegt und sitzt, schläft er wie ein Sehender. Ist beschäftigt mit Beobachten, Sehen. Gespannt verfolgt er die Bilder, die vor ihm abrollen, er sieht sie an, sein Kopf ist festgehalten.    - Alfred Döblin, Reise in Polen. München 1987 (zuerst 1925)

Eisenbahnabteil (10)   »Fahrkarten bitte!« sagte der Schaffner und streckte den Kopf zum Fenster herein. Sogleich hielten alle ihre Fahrkarten hin: und da diese etwa genauso groß wie die Passagiere selbst waren, schien das ganze Abteil auf einmal voll davon. »Nun komm schon! Zeig deine Fahrkarte, Kind!« sagte darauf der Schaffner und sah Alice ungehalten nn. Und eine große Zahl von Stimmen sagten alle zugleich (»wie ein Kehrreim beim Singen*, dachte Alice): »Halt ihn nicht auf, Kind! Seine Zeit allein kostet tausend Mark die Minute!«

Der Schaffner hatte sie die ganze Zeit über betrachtet, zuerst durch ein Fernrohr, dann durch ein Mikroskop und zuletzt durch ein Opernglas. Schließlich sagte er: »Du fahrst in der falschen Richtung«, zog das Fenster hoch und verschwand. »Ein Kind von so zartem Alter«, sagte der Herr gegenüber (der einen Anzug aus weißem Papier trug), »sollte doch wissen, wohin es will, selbst wenn es seinen eigenen Namen noch nicht weiß!«

Eine Ziege, die neben dem Herrn in Weiß saß, schloß die Augen und sagte laut: »Sie sollte doch wissen, wo der Schalter ist, selbst wenn sie das Abc noch nicht kann!« Neben der Ziege saß ein Käfer (es war überhaupt eine recht merkwürdige Reisegesellschaft), und da es anscheinend die Regel war, daß jeder der Reihe nach sprach, sagte der nun: »Sie muß als Frachtgut zurückgehen!«
Wer neben dem Käfer saß, konnte Alice nicht mehr recht erkennen, doch ließ sich von dort jetzt eine heisere Stimme hören und maulte: »Lokomotivwcchsel -«, aber da kam ihr etwas in die Kehle, und sie mußte abbrechen. »Der Stimme nach könnte es ein Pferd sein oder ein Maultier«, sagte sich Alice; und ein überaus dünnes Stimmchen dicht an ihrem Ohr sagte darauf: »Daraus könntest du einen Scherz machen - etwas mit Maultier und mault hier, verstehst du?« Daraufsagte eine sehr sanfte Stimme von fern her: »Sie braucht ein Schild ‹Umschürzen vermaiden›.

Und danach redeten viele Stimmen nacheinander fort (»Wie viele Passagiere doch hier im Abteil sein müssen!« dachte Alice) und sagten: »Sie muß per Post geschickt werden, sie hat ja einen Kopf auf.« - »Sie muß als telegraphische Nachricht befördert werden.« - »Sie muß den Zug selbst ziehen, bis sie dort ist -«und so fort.

Der Herr im weißen Papirranzug indessen lehnte sich zu ihr hin und flüsterte ihr ins Ohr: »Hör nicht auf sie, mein Kind, sondern kaufe einfach bei jeder Station eine Rückfahrkarte.«

»Ich denke ja gar nicht daran!« sagte Alice recht ungehalten. »Ich gehöre überhaupt nicht in diese Eisenbahnfahrt - eben war ich noch in einem Wald - und ich wollte nur, ich wäre wieder dort!«

»Auch daraus könntest du einen Scherz machen«, sagte die dünne Stimme dicht an ihrem Ohr, »etwas mit ich wollte und im Walde, verstehst du?«

»Sei doch nicht so lastig«, sagte Alice, die sich vergeblich nach dem Sprecher umsah ; »wenn du so gern Scherze hörst, warum machst du dann nicht selber einen?«

Das Stimmchen seufzte tief auf: da war jemand offensichtlich todunglücklich, und Alice hätte auch etwas Tröstliches gesagt -»wenn es doch nur seufzen wollte wie andere Leute auch!«, so dachte sie sich. Aber dieser Seufzer war so über alle Maßen klein gewesen, daß sie ihn überhaupt nicht wahrgenommen hätte, wenn er nicht überaus dicht an ihrem Ohr ertönt wäre. Infolgedessen kitzelte sie der Seufzer ganz schlimm im Ohr, und sie konnte ihre Gedanken über den Kummer des armen Geschöpfes nicht recht sammeln.
»Du bist doch meine Freundin«, fuhr das Stimmchen fort, »eine liebe Freundin, eine alte Freundin. Und du wirst mir gewiß nichts tun, wenngleich ich ein Insekt bin.« »Was für eine Art Insekt?« fragte Alice ein wenig besorgt. Eigentlich wollte sie nur wissen, ob es stechen konnte oder nicht, aber diese Frage kam ihr nicht ganz schicklich vor. »Aber du willst doch nicht etwa sagen -«, fing das Stimmchcn an, doch da pfiff die Lokomotive schrill dazwischen, und alle, Alice ebenso wie die anderen, sprangen erschreckt von den Sitzen auf.
Das Maultier, das den Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte, zog ihn ruhig wieder ein und sagte: »Es ist nur ein Bach, der Zug muß dar überspringen.«  - Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Frankfurt am Main 1974  (zuerst 1872)


Eisenbahn

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