inzeller
Alles, was lebt, alle Materie, die jemals lebendig geworden ist, findet
sich irgendwie im Raum zurecht, vom Dackel bis zum Einzeller, der als
Plankton im Wasser treibt. Eine einzellige Blaualge weiß zwar nicht, wo
sie sich befindet, aber sie weiß, wo ihre Nahrung, wo das Licht ist:
außerhalb ihres Körpers. Und weil sie sich dem Licht ja nicht zuwenden
kann und es, während sie so trudelt, aus allen Richtungen kommen könnte,
hält sie ihre Münder, ihre licht schluckenden Membransäcke, auch in
alle Richtungen offen.
Sie kann gar nicht anders.
Schon bei der Geburt, bei der Spaltung ihrer
Mutterzelle, sind alle Körperteilchen so angeordnet worden, dass die
Nährstoffe in sie hinein-, durch sie hindurch- und umgewandelt wieder
hinausgeleitet werden: schlucken, verdauen, ausscheiden.
Die Blaualge ist als ausgerichtete Lichtfalle zur Welt gekommen, und so
wird sie auch sterben. Bis zuletzt behält sie ihre kleine, aufs Nötigste
konzentrierte Form der Orientierung.
Der Name Plankton vom altgriechischen Wort für »herumirrend« tut ihr
Unrecht, eigentlich ist sie das genaue Gegenteil. Absolut orientiert,
unfähig, sich zu verirren.
Wie alle Wesen, die sich nicht selbständig fortbewegen.
Und jene, die es könnten, wollen es nicht. Kein Hund
streunt freiwillig in die Irre. Sobald er merkt, dass es passiert ist,
kriegt er Angst.
Der Mensch normalerweise auch.
Manchmal jedoch zieht einer los, ohne zu wissen wohin
und ohne darauf zu achten, stromert und schlendert, streift und schweift
herum und umher, bis er nicht mehr weiß, wo er ist, und dann genau so
weiter, in genau diesem Zustand, einfach irgendwo unterwegs
nirgendwohin.
Das ist menschlich, ein rein menschliches Verhalten, es steckt im braven Spaziergänger genau wie im Abenteurer, im Flaneur
genau wie im Wandermönch. Es ist ein Verstoß gegen Artikel l der
natürlichen Verkehrsordnung, es ist Fortbewegung ohne Fahrschein und
ohne Plan. Kontrolleur ist der Tod. Der Mönch verlässt sich auf die
Gnade des Allmächtigen, der Abenteurer auf sich selbst, der Flaneur
darauf, dass alles nur ein Spiel ist, und der Spaziergänger sitzt schon
wieder daheim. - Christian Schulteisz, Wense. Berlin 2020
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