Einsickern  Es ... dieses Wesen . . . war über eine Erdhaut gekommen, die sich, vielleicht bis tief ins Unerforschte hinab, mit der Substanz seiner aus der Welt gerotteten Art getränkt hatte. Schicht um Schicht hatte der Verfall der Arten die Erde bedeckt. Teilchen für Teilchen war erloschene Materie durch den porösen Mantel des Planeten gesickert und hatte das dem Feuer entsprungene Erdgestein unterwandert, Tod und Verwesung seit Äonen vergangenen Lebens hatten, Atom für Atom, Besitz genommen von Gaia, der Mutter, und alles, was ihrem Busen entsproß, war vollgesogen mit dem Urin toter Ratten. Gras hatte sich genährt von den Säften nervenbegabter Bruten, die vor tausend Jahren verendet waren: nachdem sie ihre Zeit vegetiert hatten. Die vegetierenden Tiere, wenn sie ihren klagenden Haß verhaucht hatten, gingen ein in den struppigen Pelz der Flora, ihre Chromosomen stiegen auf bis in die feinsten Spitzen und Stäube der Pflanzen . . . auf Sonnenbahnen war der Dampf ihres Wesens in die Höhe gefahren, noch einmal wurden sie gehetzt in den Leibern der tiergestaltigen Wolken, vor den Stürmen flohen sie noch einmal den schattenlosen Azur: und regneten am Abend wie Blut auf die räudige Epidermis der Erde. Stoff der Spinnen und Vögel, Stoff der Echsen und Katzen, Blut der Fische, der Wölfe, der Affen: zuckendes Wechseln, und darüber das Atmen und Wiederkäuen der Wolken . . . wie die Wasser sich sträubten, ihre Wellen, wie die Wellen der Erde, wie Festigkeit sich wälzte, und wie die stummen Ebenen die Rachen öffneten. Und wie sich Schauer von Leben wälzten, auf denen wir gingen, und wie, wenn wir nicht gingen, die Nacht uns näherkam. Die Nacht, die wir kannten aus dem Chlorophyll galliger Weidenblätter . . . die nach Fleisch schmeckten, wenn alles nach Fleisch schmeckte in der Nacht. Das Trinkwasser in der Nacht, das nach Fell und Läusen schmeckte...   - Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991

Einsickern (2)  Man wird zugeben, daß die Jaguare unser Leben sehr beeinträchtigen. Bei uns, in der rue Blomet, gibt es Jaguare an allen Ecken und Enden. Man sollte es nicht für möglich halten, weil man sie selten sieht, aber das ist gerade ihre Art und Weise, dazusein und überall einzusickern. Glauben Sie mir, man findet sie morgens sogar in der Butter; sehen Sie sich Hortensia, meine Frau, an, wie traurig sie ihren Toast schmiert, vielleicht können Sie auch den feinen roten Faden sehen, der das Butterröllchen in etwas verwandelt, das halb nach Kunstmarzipan, halb nach multivalenter Zahnpasta aussieht. Da ist der Jaguar vorbeigeschlichen und hat Hortensias Finger zerkratzt, deshalb schmiert sie so traurig ihren Toast. Ganz zu schweigen von den Jaguaren, die es unter der Dusche gibt, diese Liebkosung früher, die heute imstande ist, uns mit ihrem feuchten Prankenhieb bei lebendigem Leibe zu häuten. Einmal wäre ich fast skalpiert worden, aber jetzt weiß ich, woran ich bin: Ich wasche mich einfach nicht mehr, basta.

Da gibt es die großen, die schrecklichen, die des Nachts erscheinen, aber recht besehen, sind es vor allem die kleinen, die uns das Leben schwermachen (wie schön sie sind, wie Insekten!). Da ist der Jaguar der Nachttischlampe, der Jaguar des Weckers, der Jaguar, der sich in einen Strumpf verkrochen hat, der Jaguar, der mit uns abrechnet, 44, 35, 2271, und ich behalte 3, der uns unablässig subtrahiert, dividiert, uns auf einen schemenhaften Durchschnitt für noch schemenhaftere Statistigraphen reduziert. Unter den kleinen (es gibt welche von der Größe eines Radiergummis oder einer Streichholzschachtel) fürchten wir vor allem den, der etwas gegen Kommas hat, denn man braucht nur eins zu setzen, und schon fegt er es mit seiner Pranke vom Papier; ich mache es mir zunutze, daß er heute noch nicht zum Vorschein gekommen ist, und streue Kommas über die ganze Seite. Hortensia behauptet, daß der schlimmste Jaguar der des Staubsaugers ist, denn seine Neigung, sich zu erbrechen, hat uns immer mit Entsetzen erfüllt. - (cort2)

 

Eindringen Tropfen Übergang

 

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