inschätzung ein
guter freund von mir speiste seinerzeit es sind schon einige jahre her tagtäglich
in der coupole am montparnasse ohne jedoch zu bezahlen stets nachdem er mit
seiner opulenten mahlzeit fertig war erhob er sich frech wie oskar und wechselte
auf die terrasse des gegenüberliegenden cafés und das ging so seine zwei drei
wochen dahin auf die frage wieso ihm das gelänge sagte er weißt du dieser ober
ist so ein trottel aus der normandie oder bretagne ein gescherter der in der
hitze der bedienung auf alles vergißt na ja und eines tages hatte mein guter
freund die idee mich zum essen einzuladen die coupole bist du wahnsinnig sagte
ich mir ist es ja gleich wenn sie dich erwischen aber ich mag einfach nicht
mit im spiel sein geh du nur schön alleine aufs eis tanzen na hör mal sagte
mein freund ich hab gestern einen scheck über zweitausend francs eingelöst ehrenwort
ich bezahl diesmal na dann zeig her sagte ich und der bursche griff tatsächlich
in die tasche und zog einen packen frischer hunderternoten hervor na ja dann
sagte ich und wir dinierten uns durch die Speisekarte von oben nach unten und
von unten nach oben und tatsächlich es ist nicht zu glauben mein freund rief
schließlich lautstark l'addition s'il vous plaît und der trottel aus der normandie
oder bretagne legte seine rechnung auf den tisch und mein guter freund blickte
sie an als präsentierte ihm der teufel einen langen
zurückliegenden vertrag sie sind wohl ein wenig meschugge
herrschte er den gescherten aus dem nordwesten an wir haben nach adam riese
um genau hundertvierzig francs konsumiert und sie verlangen auf diesem wisch
ganze tausendfünfhundert ja sagte der oberkellner heute waren es hundertvierzig
aber wie ich sehe sind sie auch heute nicht so pleite wie in den vergangenen
zwei wochen - H.
C. Artmann, Nachrichten aus Nord und Süd. München 1981 (dtv 6317, zuerst
1978)
Einschätzung (2) Sein Chinesenverstand,
der sehr klar war, aber nicht weit reichte, richtete sich nach der offenbaren
Lage der Dinge, so wie sie ihm im Licht seines einfachen Selbsterhaltungstriebes
erschienen, der nicht an irgendwelche romantischen Ehrgefühle oder ein empfindliches
Gewissen gebunden war. Seine gelben Hände, lose zusammengelegt, hingen müßig
zwischen seinen Knien herab. Die Gräber von Wangs Vorfahren lagen weit weg,
seine Eltern waren gestorben, sein älterer Bruder war Soldat im Hofstaat irgendeines
Mandarins auf dem fernen Formosa. Niemand in unmittelbarer Nähe hatte einen
Anspruch auf seine Verehrung oder seinen Gehorsam. Er war jahrelang ein ruhelos
vagabundierender Arbeiter gewesen. Seine einzige Bindung in der Welt war das
Alfuroweib, für das er einen beträchtlichen Teil seines schwerverdienten Geldes
weggegeben hatte; er war im Grunde nur sich selbst verpflichtet.
Das Scharren hinter dem Vorhang war ein böses Omen
für Nummer Eins, dem der Chinese weder Liebe
noch Antipathie entgegenbrachte. Immerhin war er durch die Entwicklung der Dinge
so eingeschüchtert, daß er mit der Kaffeekanne zögerte, bis schließlich der
weiße Mann sich bewogen gefühlt hatte, nach ihm zu rufen. Wang ging voller Neugier
hinein. Die weiße Frau sah entschieden so aus, als habe sie mit einem Geist
gerungen, der es fertiggebracht hatte, ihr halbes Blut auszusaugen, ehe er von
ihr abließ. Was den Mann betraf, so hatte Wang ihn lange als einen betrachtet,
der irgendwie behext und verloren war. - Joseph Conrad, Sieg. Eine
Inselgeschichte. Frankfurt am Main 1962 (zuerst 1915)