Einholen

inholen Ich saß auf einer Bank, in Baltimore, vorm Springbrunnen im Harlem Park, neben einer Frau, die einen Schleier trug. Ich war mit ihr hierher gekommen. Es war eine Frau, die ich gut kannte. Aber ich hatte plötzlich vergessen, wer sie war. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil der lange, schwarze Schleier davor war.

Ich dachte, ich würde sie vielleicht an der Stimme erkennen, wenn ich etwas zu ihr sagte und sie mir darauf antwortete. Aber ich war ganz verwirrt und überlegte lang, was ich ihr sagen könnte. Schließlich fragte ich sie, ob sie einen gewissen Carroll T. Harris kenne.

Sie antwortete mir, aber das Rauschen und Plätschern des Springbrunnens übertönten ihre Stimme, und ich konnte nichts verstehen.

Auf der Edmundson Avenue fuhr die Feuerwehr. Die Frau ließ mich sitzen und lief hinterher. Im Laufen rief sie:

»Feuer! Feuer!« Da erkannte ich ihre Stimme und wußte wieder, wer sie war und daß sie mir viel bedeutete. Ich rannte hinter ihr her, aber es war zu spät. Sie war samt Feuerwehr verschwunden.

Ich wanderte durch Straßen und suchte sie, durch die Hälfte aller Straßen der Vereinigten Staaten, durch die Gay Street und Mount Royal Avenue in Baltimore, die Colfax Avenue in Denver, Aetna Road und St. Clair Avenue in Cleveland, McKinney Avenue in Dallas, Lemartine und Cornell und Amory Street in Boston, durch den Berry Boulevard in Louisville und die Lexington Avenue in New York, bis ich zur Victoria Street in Jacksonville kam, wo ich wieder ihre Stimme hörte, doch sehen konnte ich sie immer noch nicht.

Ich lief durch immer mehr Straßen und horchte nach ihrer Stimme. Sie rief einen Namen, nicht meinen, sondern einen fremden, aber wie schnell ich auch ging und in welcher Richtung, ich kam ihrer Stimme nicht näher. In der Straße, die am Bundeshaus in El Paso vorbeigeht, war sie genauso weit von mir entfernt wie im Grand Circus Park von Detroit. Dann brach die Stimme ab.

Müde und mutlos trat ich in die Halle des Hotels gegenüber dem Bahnhof von Rocky Mount, North Carolina, um mich auszuruhen. Während ich da saß, fuhr ein Zug ein. Sie stieg aus ihm aus und kam in die Halle, zu mir her und fing an, mich zu küssen. Das war mir sehr peinlich, weil so viele Leute herumstanden und uns anstarrten und lachten. - Dashiell Hammett, Rote Ernte. Zürich 1976 (detebe 69/II, zuerst 1928)

Einholen ⁽²⁾ Ein König von Spanien, welcher die Musik sehr zu lieben glaubte, fand Gefallen daran, in den Quartetten von Boccherini seinen Part zu spielen; aber er konnte nicht immer dem Tempo eines Stückes folgen. Eines Tages, da er noch weiter als gewöhnlich hinter den anderen Mitwirkenden zurückblieb, erschraken diese über die Unordnung, welche der um drei bis vier Takte verspätete königliche Fiedelbogen hervorbrachte, und machten Miene, anhalten zu wollen. - »Nur vorwärts«, rief der begeisterte Monarch, »ich werde Euch schon einholen!«

- Hector 
Berlioz, Groteske Musikantengeschichten. Frankfurt am Main 1986 (it 859, zuerst 
1859)

Einholen ⁽³⁾ Aristoteles: »Das zweite Argument Zenons ist der sogenannte ›Achilles‹. Es läuft auf den Gedanken hinaus, daß der Langsamste von dem Schnellsten nicht eingeholt werden kann, weil der Verfolger durch den Ort gehen muß, den der Verfolgte eben erst geräumt hat, so daß der Langsamste ihm stets um einen bestimmten Vorsprung voraus ist.« Das Problem hat sich, wie man sieht, nicht geändert; doch wüßte ich gern den Namen des Dichters, der es mit einem Helden und einer Schildkröte ausgestattet hat. Diesen magischen Wettkämpfern sowie der Reihe

dankt das Argument seine Verbreitung.... Die Bewegung ist unmöglich (argumentiert Zenon), weil der bewegte Gegenstand, um ans Ziel zu gelangen, erst die Hälfte der Bahn zurücklegen muß, und vorher die Hälfte der Hälfte, und vorher die Hälfte der Hälfte der Hälfte, und vorher...*

* Ein Jahrhundert später stellte der chinesische Sophist Hui Tsu die Überlegung an, daß ein Stock, von dem man jeden Tag die Hälfte abschneidet, niemals endet

- Jorge Luis Borges, Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991